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Radprofis gehen geschwächt in die Flandern-Rundfahrt

Eine außergewöhnliche Krankheitswelle hat den Profiradsport fest im Griff. Der volle Rennkalender verschlimmert die Situation zusätzlich

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Februar wurde Europameister Sonny Colbrelli (M.) Zweiter beim belgischen Eintagesrennen Het Nieuwsblad. Teils über dieselben Anstiege führt die Flandern-Rundfahrt, doch Colbrelli fällt nach einem Zusammenbruch aus.
Im Februar wurde Europameister Sonny Colbrelli (M.) Zweiter beim belgischen Eintagesrennen Het Nieuwsblad. Teils über dieselben Anstiege führt die Flandern-Rundfahrt, doch Colbrelli fällt nach einem Zusammenbruch aus.

Die legendäre Flandern-Rundfahrt steht am Sonntag an: Ein alljährlicher Höhepunkt im Radsportkalender. Selten zuvor aber ging ein Fahrerfeld so ausgelaugt an den Start. Topfavorit Wout van Aert wirft möglicherweise sogar noch vor dem Start das Handtuch. Denn eine heftige Krankheitswelle sucht seit Anfang März den Profiradsport heim. Van Aert ist deren jüngstes Opfer.

Scharenweise verließen andere Stars vorzeitig die Fernfahrten Paris-Nizza und Tirreno-Adriatico. Magenprobleme und Fieberattacken stoppten zum Beispiel die Siegambitionen des dreifachen Weltmeisters Peter Sagan in Italien. Derweil stiegen mit Erkältungssymptomen Titelverteidiger Maximilian Schachmann, Teamkollege Nils Politt und Paris-Roubaix-Sieger Sonny Colbrelli beim Rennen in Frankreich aus. Nur insgesamt 59 von 154 gestarteten Fahrern kamen an. Das waren noch einmal zwei Radprofis weniger als bei der Ausgabe 2020, als die beginnende Corona-Pandemie zahlreiche Teams zum vorsorglichen Rückzug ihrer Fahrer gezwungen hatte.

»Es hat überraschend viele Fahrer getroffen. Man kann sagen, Infektionen reduzierten das Feld bei Paris-Nizza, während Magen-Darm-Probleme beim Tirreno Adriatico die Ursache waren«, fasste Routinier Roger Kluge gegenüber »nd« die Situation zusammen. Der beim belgischen Rennstall Lotto Soudal engagierte Fahrer fuhr zwar an der Adria noch die letzte Etappe planmäßig zu Ende. Danach erwischte es aber auch ihn. Vorzeitig stieg er beim ersten großen Frühjahrsklassiker der Saison aus, weit bevor das Feld das Ziel in San Remo erreichen sollte.

Wie Kluge halten viele diese Krankheitswelle für ungewöhnlich groß. »Ich denke, 85 bis 90 Prozent im Fahrerfeld ging es schlecht«, meinte Zeitfahrweltmeister und Bahnradolympiasieger Filippo Ganna, der mit Fieber vom Tirreno kam und bei Mailand-San Remo vor lauter Schwäche das Hinterrad seiner Kollegen im Ineos-Team nicht mehr halten konnte. Sonst ist es ob der Tempohärte Gannas eigentlich andersherum. Seinen Teamgefährten Tom Pidcock, einer der Favoriten auch für die Flandern-Rundfahrt, erwischte es noch schlimmer. Erst verhinderte eine Viruserkrankung seinen Start beim Sandstraßenklassiker Strade Bianche, dann stieg er bei Mailand-San Remo mit Magenproblemen aus. »Blutuntersuchungen ergaben, dass die Krankheiten zwei unterschiedliche Ursachen hatten«, erklärte Teammanager Rod Ellingworth später. Resigniert fügte er hinzu: »Es geht durchs gesamte Feld. Fast jeder holt sich irgendwas.«

Der deutsche Bora-Rennstall musste gar alle Fahrer vorzeitig aus Frankreich abziehen. Statt Trainern und Masseuren braucht Teamchef Ralph Denk jetzt eher Krankenpfleger. »19 unserer insgesamt 30 Fahrer im Kader sind wegen Krankheiten oder Verletzungen nicht einsatzfähig«, sagte er dem »nd« vor knapp zwei Wochen am Rande von Mailand-San Remo. »Vor allem handelt es sich um eine Infektion der oberen Atemwege, manchmal Covid, manchmal ohne Covid«, ergänzte er. Bezogen auf eine ähnliche Situation bei den meisten anderen Rennställen beobachtet er »eine extreme Situation«. »In meiner Zeit beim Profiradsport habe ich so etwas noch nicht erlebt.«

Über die Ursachen wird viel gerätselt. »Medizinische Erklärungen gibt es bisher nicht. Wir müssen das beobachten«, sagte Matthias Baumann, Verbandsarzt des Bundes Deutscher Radfahrer und zugleich Präsident der Medizinischen Kommission beim Weltverband UCI, dem »nd«. Seinen Erkenntnissen zufolge beschränkt sich die hohe Infektionsrate gegenwärtig auf die Profisparte. »In allen anderen Bereichen des BDR, inklusive der Cross- und Mountainbike-Fahrer, haben wir im Vergleich zu den Vorjahren keine höheren Infektionszahlen, abgesehen von Covid natürlich«, sagte er. Und auch im Austausch mit Medizinern anderer olympischer Disziplinen sah er keine Anzeichen für ein intensiveres Infektionsgeschehen.

Es scheint sich also um ein Phänomen vor allem im Profistraßenradsport zu handeln. Fälle wie der des zweimal an Covid erkrankten Peter Sagan legen nahe, dass Spätfolgen von Corona eine Rolle spielen könnten. »Früher war Peter immer gesund, hatte so gut wie nie Probleme. Seit Corona werfen ihn aber immer wieder Magenprobleme und Fieberanfälle zurück«, sagte ein Betreuer des Slowaken. Zumindest einen statistischen Zusammenhang mit Corona sieht Bora-Teamchef Denk: »Klar ist doch: In früheren Jahren hatten wir kein Corona, es gab keine Impfungen und weniger Atemwegserkrankungen als jetzt.«

Ob sich daraus allerdings ein kausaler Zusammenhang herstellen lässt, ist zweifelhaft. Dass es sich um Folgen der Impfungen handeln könnte, schließt BDR-Verbandsarzt Baumann, im Hauptberuf Chefarzt der Unfallchirurgie im Krankenhaus Sigmaringen, nach aktuellem Wissensstand aus.

Im Peloton kursiert derweil ein anderes Erklärungsmuster, das zumindest indirekt mit der Pandemie zu tun hat. »In den letzten zwei Jahren haben wir uns alle extrem abgeschottet. Das hat dazu geführt, dass es viel weniger gewöhnliche Infektionserkrankungen gab. Das bedeutet auch, dass der Körper jetzt weniger Abwehrkräfte hat«, meint Radprofi Roger Kluge. Der Berliner sagt aber auch, dass das nur eine Vermutung sei. »Ich bin ja kein Mediziner.«

Deutlich sichtbar sind die Konsequenzen der hohen Ausfallquote. Rennställe haben zunehmend Probleme, komplette Teams an den Start der jeweiligen Rennen zu bringen. Diese ganz auszulassen, um den Fahrern genug Zeit zur Genesung und Erholung zu geben, würde jedoch die Lizenz gefährden. »Wir befinden uns im Flickmodus«, konstatiert Teamchef Ralph Denk besorgt. »Man schickt die Fahrer nur noch von einem Rennen ins andere. Und das bedeutet dann, dass auch kein wirklicher Formaufbau mehr möglich ist. Die gesunden Rennfahrer sind nicht mehr regeneriert, weil sie mehr Rennen fahren als ursprünglich geplant. Das ist fatal, weil auch nicht mehr die Rennprogramme optimal ineinandergreifen«, erklärt er.

Auch Kluge sieht die Gefahr, dass der über Wochen ausgetüftelte Formaufbau nun ins Rutschen gerät. Und obwohl die Krankheitswelle über alle Teams hinwegrollte, gibt es unterschiedliche Auswirkungen. »Bei uns fiel mit Caleb Ewan ausgerechnet in der Zeit der Eintagesrennen unser Siegfahrer aus. Der hätte uns sicher mehr Punkte geholt«, erklärte Kluge. Für sein Team spielt die Punktwertung am Ende dieser Saison aber eine große Rolle bei der neuerlichen Vergabe der neuen World-Tour-Lizenzen.

Noch prekärer wird es, wenn erkrankte Fahrer zu früh wieder einsteigen. Italiens Europameister Sonny Colbrelli war mit einer Bronchitis bei Paris-Nizza ausgestiegen, saß zwei Wochen danach bei der Katalonien-Rundfahrt schon wieder auf dem Rad und kollabierte nach der Zieleinfahrt der 1. Etappe. Er musste sogar reanimiert werden. In Italien wird nun untersucht, ob es seine Herzrhythmusstörungen überhaupt zulassen, je wieder ein Rennen zu bestreiten.

Als einer von sehr wenigen Profis blieb der Tour de France-Sieger Tadej Pogacar bisher von allem verschont und fuhr bereits acht Siege in diesem Jahr ein. Nun will er sich auch auf den Pflastersteinen in Flandern versuchen. Als härtester Konkurrent gilt der zuletzt ebenfalls erfolgreiche Mathieu van der Poel. Der Niederländer profitierte in gewisser Hinsicht von einer Rückenverletzung, die ihn im Winter plagte. Er stieg deshalb erst viel später als geplant in die neue Saison ein - und mied damit den rollenden Infektionsherd des Fahrerfelds.

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