Opferzahlen ohne Gewähr

Der Krieg in der Ukraine begann nicht erst im Februar 2022, seine Ursachen waren beim Zerfall der Sowjetunion angelegt

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Man schone die Zivilbevölkerung, so gut es eben geht, versichern die Offiziellen in Moskau. Russland terrorisiere voller Absicht ukrainische Bürger, ganz gleich, welcher ethnischen Zugehörigkeit sie sind, antwortet Kiew. Die Bilder aus zerstörten Städten wie Mariupol, Charkiw, Tschernihiw und vielen anderen sprechen ebenso wie Schreckensnachrichten aus dem tiefen Hinterland eine eindeutige Sprache. Laut Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) wurden bis zum 31. März 2022 mindestens 1232 ukrainische Zivilisten getötete und 1935 verletzt. Darunter waren 112 getötete und 149 verletzte Kinder.

Bei den Angaben handelt es sich um durch die UN bestätigte zivile Opfer, doch das OHCHR geht davon aus, dass die tatsächliche Anzahl an Verletzten und Toten in der ukrainischen Zivilbevölkerung wesentlich höher ist. Viele Berichte lassen sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt oder gar nicht verifizieren. Zudem fehlen Erkenntnisse aus den Oblasten Donezk (Mariupol und Wolnowacha), Charkiw, Luhansk und Sumy.

Der Internationale Strafgerichtshof hat unlängst Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine aufgenommen. Die jedoch gehen laut Chefermittler Karim Khan weit über das Geschehen seit dem 24. Februar 2022, dem Datum des russischen Überfalls, hinaus. Es gebe »plausible Gründe« für die Annahme, dass seit 2014 in der Ukraine »sowohl mutmaßliche Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden«.

Eigentlich begann der Konflikt, der heute nicht nur zwei Länder in den Strudel eines möglichen Untergangs zieht, spätestens am 25. Dezember 1991. An jenem Tag hörte die UdSSR auf zu existieren. Die Union zerfiel in mehr oder weniger eigenständige Republiken. In denen Hunderttausende Russen lebten, die über Nacht zu Fremden in ihrer Heimat und dort oft genug zu Bürgern zweiter Klasse herabgestuft wurden. Sie waren empfänglich für großrussische Propaganda, die Russlands Machthaber Wladimir Putin gleichsam als erstrebenswertes Angebot der Selbstachtung über sie brachte. Auch in der Ukraine, die insbesondere nach der Krim-Annexion durch Russland strikt Richtung Westen driftete. Eine Mitgliedschaft in EU und Nato und damit eine Bedrohung für Russland schien nur noch eine Formsache zu sein.

Da zog Putin die Reißleine. Am 13. April 2014 überfielen prorussische Kämpfer, die vom Ex-Geheimdienstler Igor Girkin alias »Strelkow« angeführt wurden, Mitglieder der ukrainischen Geheimdiensteinheit »Alfa«. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine war eröffnet. Vorerst in der Ostukraine. Um Donezk und Luhansk, wo Russen die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, bildeten sich zwei sogenannte Volksrepubliken. Mit eigener Verwaltung, eigenen Truppen und unterstützt vom großen russischen Mutterland.

Auf der ukrainischen Seite trat die Armee an, es organisierten sich Freiwilligenbataillone wie »Asow« oder »Donbass«. Deren Angehörige gehören dem »Rechten Sektor« an. Für die Russen waren sie schlicht »Faschisten«. Ihre Attacken auf die Volksrepubliken wurden von den dortigen Milizen der Volksrepubliken opferreich abgewiesen.

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Bereits am 5. September 2014 unterzeichneten Russland, die Ukraine und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im belarussischen Minsk einen Vertrag, der im Februar 2015 durch eine UN-Resolution völkerrechtliche Bindung erhielt. Der Waffenstillstand hielt nicht. Im Februar 2015 kam auf Initiative von Deutschland und Frankreich ein erneutes Waffenstillstandsabkommen zustande. Auch diese als Minsk-II-Prozess bezeichnete Hoffnung trug nicht weit. Nach und nach schwanden in Paris und Berlin die Ideen zur Beilegung der »Bruderstreitigkeiten«. Das Bemühen um eine Reaktivierung von Vernunft erlahmte, man erklärte den Konflikt für »eingefroren«. Die OSZE beschränkte sich auf das tägliche Beobachten der Waffenstillstandsverletzungen entlang der »Kontaktlinie«. Die Uno verfasste Resolutionen - mit großer Mehrheit und ohne Folgen.

Da waren aus dem Donbass bereits mehr als 13 000 Todesopfer gemeldet. Die Anzahl der Binnenvertriebenen wurde auf rund 1,5 Millionen geschätzt, über eine Million Menschen waren ins russische Heimatland geflohen oder wurden dahin evakuiert. Die Infrastruktur und die öffentliche Verwaltung entlang der Kontaktlinie wurden Tag für Tag durch Angriffe ukrainischer Truppen weitgehend zerstört. Wohnhäuser waren Ziele, ebenso wie Kindergärten und Schulen. Die Wirtschaft kam zum Erliegen. Scharfschützen und Artillerie gestalteten stattdessen den Alltag rechts und links der Frontlinien.

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Wer damals Flug MH 17 vom Himmel holte und damit 298 am Krieg Unbeteiligte, darunter 80 Kinder, umbrachte, ist noch immer umstritten. Jede Seite antworte immer nur auf die Provokationen der jeweils anderen Seite. Die Propaganda aus Moskau und Kiew lief auf Hochtouren, so wie die brutale Verfolgung angeblicher Spione und Saboteure. Es gab Folter, Entführungen, Zwangsarbeit. Das Elend blieb im restlichen Europa ein Randthema. EU und Nato unterstützen die Ukraine, medial wie militärisch. Dass Menschen aus den Volksrepubliken mit Hilfe der Bürgerrechtsgruppe Memorial - die Putin unlängst verbot - über 600 Klagen beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht haben, spielte keine Rolle. Ebenso wie die russischen »Genozid«-Vorwürfe, die beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingingen.

Jeder Krieg hat seine Vorgeschichte - und der russisch-ukrainische hoffentlich bald eine danach. Mit Nachhaltigkeitsgarantie.

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