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Der Eingriff in die gebrochene Welt
Die Politischen Schriften des antikolonialen Revolutionärs Frantz Fanon sind wieder erschienen
Wer sind sie, diese nach Menschlichkeit begierigen Wesen?«, lesen wir in einem der vor uns liegenden Aufsätze Frantz Fanons. Wer ist er, dieser schwarze Mensch, geboren und aufgewachsen in der französischen Kolonie Martinique, Arzt, Revolutionär, Vordenker der Entkolonialisierung, der 1961, am Tag, als sein Hauptwerk »Die Verdammten dieser Erde« mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre erschien, starb?
Diese Schrift sollte eines der meistgelesenen und viel diskutierten Bücher der kommenden Jahre werden. Es war die Epoche der antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungskämpfe in Asien, Afrika und Lateinamerika, Kämpfe, die in ihrer Kompromisslosigkeit und Radikalität ganz erheblich den Aufbruch der 60er Jahre befeuert haben, auch im kapitalistischen Westen.
Woher kommt diese Radikalität in Fanons Texten, die keinen Raum für Eventualitäten oder Fehlinterpretationen lässt? Der 1964 erstmals auf Deutsch und jetzt in einer Neuauflage erschienene Band »Für eine afrikanische Revolution« ist eine Sammlung von 28 Zeitungsartikeln und Reden von Frantz Fanon. »Für eine afrikanische Revolution« könnte aber auch der Ehrentitel seines kurzen Lebens sein. Als er Ende 1961 im Alter von nur 36 Jahren an Leukämie starb, waren die Verträge von Evian zwischen der algerischen Befreiungsbewegung FLN und der französischen Regierung unter de Gaulle über einen Waffenstillstand und ein Unabhängigkeitsreferendum noch nicht in trockenen Tüchern.
Wenige Wochen zuvor hatte die Pariser Polizei mindestens 200 friedlich demonstrierende Algerier erschossen, erschlagen oder in der Seine ertränkt. Aber dennoch - oder deshalb? - starb Fanon mit dieser Gewissheit: Nicht nur in Algerien, in ganz Afrika stehen revolutionäre Umwälzungen bevor.
Er ist lange davon überzeugt, dass die kolonisierten Völker im Globalen Süden auf dem Weg ihrer Befreiung marschieren. Hier trifft er sich mit einem anderen internationalistisch denkenden und agierenden Revolutionär dieser Epoche: Che Guevara, der sich später auf Fanon beziehen wird. Aber nicht nur der revolutionäre Internationalismus verbindet die beiden, sondern auch die Gewissheit, dass es Revolution ohne Revolution des Individuums und seiner Subjektivität nicht geben kann. Als Che 1959 zum ersten Mal die Sowjetunion besucht, ist er ziemlich enttäuscht, die erhoffte egalitäre Gesellschaft mit »dem neuen sozialistischen Menschen« nicht vorzufinden. Fanons Gewissheit, dass »nur ein befreites Individuum an den konstruktiven Aufbau einer Gesellschaft gehen kann«, könnte auch von Che stammen.
Als die Algerierinnen und Algerier Mitte der 50er Jahre die Viertel der französischen Kolonialisten stürmten, taten sie dies mit dem Ruf »Dien Bien Phu«. Dieser Ort liegt weit weg, in Vietnam. Zwischen der vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegung Viet Minh und der algerischen FLN hatte es Kontakte und Austausch gegeben. Der Name Dien Bien Phu steht für die von den französischen Streitkräften einschließlich der Fremdenlegion - darunter eine große Anzahl ehemalige SS-Angehörige -, errichtete Dschungelfestung, die 1954 von der Viet Minh überrannt wurde, was das Ende des französischen Kolonialkrieges in Indochina und den Beginn des Befreiungskrieges im selben Jahr in Algerien bedeutete.
Es gibt wenige Autorinnen und Autoren aus jener Zeit, die mit der unbestechlichen Klarheit und kompromisslosen Radikalität Fanons sprechen: »Der Kampf ist von Anfang an total, absolut.« Sein Blick darauf, was Befreiung vom Kolonialismus bedeutet, geht indes über das hinaus, was unter dieser Befreiung meist verstanden - besser: missverstanden - wird. »Die Befreiung des Individuums folgt nicht auf die nationale Befreiung. Eine wirkliche nationale Befreiung gibt es nur in dem Maße, wie das Individuum unwiderruflich seine Befreiung als Möglichkeit in greifbarer Nähe sieht.«
Aber Fanon ist erst mal Psychiater. 1953 wird er Leiter der psychiatrischen Klinik im algerischen Blida. Was kann ein Psychiater in einem kolonisierten Land machen, wenn er nicht Kollaborateur der Kolonialmacht sein will? Er duldet nicht, dass seine Patientinnen und Patienten nicht als Subjekte behandelt werden. Diese Tätigkeit als Arzt und Psychiater kann - muss nicht - ein Sich-Öffnen für das Individuum in Gang setzen. Dieser Fokus »Individuum«, nicht der taube Individualismus unserer Tage, ist unter den Revolutionären jener Epoche alles andere als verbreitet. »Die kulturelle Mumifizierung bringt eine Mumifizierung des individuellen Denkens mit sich ... Als ob es für einen Menschen möglich wäre, sich irgendwie zu entfalten, als im Rahmen einer Kultur, die ihn anerkennt und die er aus freien Stücken übernimmt.«
Ende 1957 schickt Fanon sein Kündigungsschreiben an den Gouverneur: »Der Wahnsinn ist eines der Mittel, das dem Menschen zur Verfügung steht, um seine Freiheit zu verlieren. Und ich kann sagen, dass ich an diesem Schnittpunkt stand, dass ich mit Schrecken die Tiefe der Entfremdung der Bewohner dieses Landes ausgelotet habe.«
Er wird aus Algerien ausgewiesen und findet sein Exil im benachbarten Tunesien. Noch im selben Jahr wird er zum Sprecher der FLN. Die Vorträge, die er auf internationalen Foren hält, die Zeitungsartikel in »El Moudjahid« und die Aufrufe an die afrikanische Jugend spiegeln sein Denken und seinen Kampf in dieser seiner aktivsten Lebensphase wider. Die französische Regierung tut alles, meist vergeblich, ihn von der internationalen Bühne fernzuhalten, wenn es sein muss, auch mit einem Attentatsversuch.
Im wild entschlossenen Bemühen, ein zweites Dien Bien Phu abzuwenden, ist sich die französische Republik für nichts zu schade. Streckenweise fragt man sich: Wo ist der Unterschied zu Nazideutschland? Französische Intellektuelle beklagen sich, so Fanon, dass »die französischen Wehrpflichtigen ›dort den Faschismus erlernen‹«. Es gelingt der Kolonialarmee, militärisch die Oberhand zu gewinnen, mit systematischer Folter, mit Massakern, Hinrichtungen, zahllosen Bombardierungen von Dörfern, mit der Internierung großer Teile der ländlichen Bevölkerung in Konzentrationslagern - kurz: mit einer Kriegsführung, die bei Regierungen, die nicht zum freien Westen gehören, als Kriegsverbrechen eingestuft und sanktioniert werden würde.
Ausführlich schreibt Fanon über die Auslöschung des tunesischen, an der algerischen Grenze gelegenen Dorfes Sakiet Sidi Youssef und seiner fast 100 Kinder, Frauen und Männer durch die französische Luftwaffe. Mit der so gewonnenen militärischen Überlegenheit hat die Kolonialmacht indes eine politische und moralische Niederlage erreicht, nicht nur in Nordafrika, sondern auch in Frankreich.
Fanons Vorgehen erinnert an einen Operateur, der mit einem scharfen Skalpell ohne Zögern herauspräpariert, was unter der Oberfläche zu finden ist, ein von schmerzhafter Klarheit geprägter Eingriff in die gebrochene Welt, in der wir leben. Fanon zeigt uns die Wechselwirkung von Kolonialismus, Körperlichkeit und revolutionärem Kampf. Er wird zur Symbolfigur eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins.
Fanon ist viele Jahre von einer unerschütterlichen Gewissheit beseelt. Er war in jener Zeit gewiss nicht der Einzige. Zweifel kommen ihm erst später. Der letzte Artikel in der Sammlung stammt vom Februar 1961: »Der Tod Lumumbas: Hätten wir anders handeln können?« Er weiß inzwischen, dass mit dem Abzug der Kolonialarmee und der formalen Unabhängigkeit die Freiheit noch lange nicht gewonnen ist. Die kommenden Jahrzehnte in Algerien sollten die Befürchtungen Fanons um ein Vielfaches übertreffen. 1992, um nur das Furchtbarste zu nennen, kommen im Bürgerkrieg zwischen radikalen Islamisten und der algerischen Armee 120 000 Menschen zu Tode.
Aber es gibt auch Hoffnung: Eine breite Jugendbewegung hat sich in den algerischen Städten entwickelt. Sie hat 2019 den Dauerpräsidenten Bouteflika zum Rücktritt gezwungen; nach einer pandemiebedingten Pause ist die Bewegung seit 2021 wieder auf der Straße. Ihre Forderungen: Weg mit den Generälen, Unabhängigkeit für Algerien.
Frantz Fanon: Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften, hg. v. Barbara Kalender. A. d. Frz. v. Einar Schlereth. März-Verlag, 259 S., geb., 22 €.
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