• Politik
  • 30 Jahre nach dem Bosnienkrieg

Die Agonie nach dem Morden

Vor 30 Jahren begann der Krieg um Bosnien-Herzegowina, das Land lebt weiterhin in Spannung

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Alljährlich am 6. April begehen die Bürgerinnen und Bürger der bosnischen Hauptstadt den »Sarajevo-Tag«. Sie gedenken der Befreiung von der deutschen Besatzung und von den kroatischen Ustascha-Faschisten im Jahr 1945. Und sie erinnern an den Beginn eines abermalig grausamen und zuvor für unmöglich gehaltenen Opfergangs.

Nach einem Referendum war das unabhängige »Bosnien und Herzegowina« ausgerufen worden. Bosnisch-serbische Politiker verweigerten sich, riefen ihrerseits eine »serbische Republik« aus. In der Folge betrieben auch die bosnischen Kroaten die Teilung des Landes.

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Noch am 5. April 1992 hatten in Sarajevo über 100 000 Menschen für Ausgleich und Frieden demonstriert. Sie wurden aus dem Sitz der serbischen Nationalistenpartei heraus beschossen. Zwei Frauen waren die ersten Opfer des später »Bosnienkrieg« genannten Mordens. Den hatten nur wenige für möglich gehalten, denn die Menschen verschiedener Herkünfte waren sich im sozialistischen Jugoslawien so nah, dass zwei Drittel aller Ehen im Land ohne Ansehen nationaler und religiöser Herkunft geschlossen wurden.

Und doch geschah es. Am 6. April 1992 begann die bis dahin noch jugoslawische Volksarmee, die nun aber von serbischen Nationalisten kommandiert wurde, mit der Belagerung der Stadt. Sie dauerte 1425 Tage. 11 541 Menschen, darunter 1.601 Kinder, kamen ums Leben.

Von den Bergen ringsum schossen die Mörder in die Stadt. Die hungernden Menschen im Tal, nur notdürftig versorgt von humanitären Organisationen, waren schon bald nicht mal mehr in der Lage, Angst zu empfinden. Des morgens krochen sie aus zerschossenen Ruinen, schlurften mit Eimern in der Hand zu den wenigen Wasserpumpen. Sie mussten Straßen überqueren und gerieten ins Visier von Scharfschützen. Wer vom Eimerdienst nicht zurückkam, hatte es geschafft. Parkanlagen wurden zu Friedhöfen. An den des nachts dort gefüllten Gräbern konnte man die Anzahl der Toten vom Vortage abschätzen.

Jugoslawien, ein Land, das trotzig eine besondere Art von Sozialismus aufbaute, das als Bannerträger der nichtpaktgebundenen Staaten zwischen den großen Weltsystemen vagabundierte, verlor Anfang der 1990er Jahre seine innere Einheit. Während sich der Rest Europas aus dem Kalten Krieg befreite, verkeilten sich auf dem Balkan Slowenen, Serben, Bosniaken, Kroaten ineinander. Nationalismus aller Art deckte wie Lava das Land, Nachbarn wurden zu Kriegern, Hass und Heimtücke leiteten sie. Folter und Vergewaltigungen wurden zu einem Teil der systematischen Kriegsführung. Die Gewaltexzesse und die ethnisch motivierte Vertreibung fast der Hälfte der Bevölkerung radierten ganze Gemeinden von der Landkarte.

Jede Seite fand Unterstützer im Ausland. Die Uno war überfordert. Sie schickte Blauhelme, die militärisch schwach und uneinheitlich geführt waren. Sie errichteten ein paar Schutzzonen. Die beim bosnischen Ort Srebrenica erlangte traurige Berühmtheit, als hier im Juli 1995 vermutlich mehr als 8000 bosnische Männer und Jungen von bosnisch-serbischen Milizen getötet wurden. Das Massaker wurde vom Haager Kriegsverbrechertribunal als Völkermord eingestuft.

Das sogenannte Abkommen von Dayton beendete 1995 nach dreieinhalb Jahren den blutigen Krieg in Bosnien und Herzegowina. Das Dokument war ein schlechter Kompromiss - aber der einzige, der den Krieg, in dem über 100.000 Menschen getötet und über zwei Millionen vertrieben worden waren, schnell beenden konnte. Unter Vermittlung der USA mit Beteiligung der Europäischen Union erreichte man einen Friedensvertrag, setzte einen internationalen Beauftragten zur Aufsicht über die Vertragseinhaltung ein, schickte eine Nato-geführte Schutztruppe. Diese Ifor, später Sfor wurde von der Eufor-Truppe abgelöst. Europa wollte seine Angelegenheiten selber regeln, es gab zahlreiche Versuche zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes. Bis auf wenige Ausnahmen scheiterten sie, denn das Interesse der internationalen Gemeinschaft verlagerte sich rasch vom Balkan in andere Kriegs- und Krisengebiete.

Bosnien-Herzegowina steckt 26 Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton noch immer in einer tiefen Krise. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Streitigkeiten zwischen den politischen Vertretern der drei im Land lebenden Volksgruppen neu angeheizt. Russland spielt für die Serben auf dem Balkan eine außenpolitisch und geostrategisch wichtige Rolle. Einzelne führende serbische und kroatische Politiker sowie Parteien stehen unter direktem Einfluss Moskaus. Das bedeutet für Bosnien-Herzegowina eine weitere ernsthafte Destabilisierung.

Die in den vergangenen Monaten stärker gewordenen Sezessionsdrohungen der Republika Srpska, dem serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina, nehmen konkreter Formen an. Dem gegenüber stehen Forderungen nach rascher Aufnahme von Bosnien-Herzegowina in die EU und die Nato. Für den 2. Oktober plant der fragile Balkan-Staat Wahlen und in Berlin wird überlegt, ob man nicht ein zusätzliches Bundeswehr-Kontingent zu deren Absicherung entsenden soll. Am Mittwoch räumte der Deutsche Bundestag dem Thema Bosnien-Herzegowina eine 70-minütige Debatte ein. Zu wenig, um auch der deutschen Verantwortung gerecht zu werden.

Durch Sarajevo fließt die Miljacka. Am Ufer des roten Flusses steht das alte Rathaus der Stadt. Während der Belagerung brannte das als Nationalbibliothek genutzte Gebäude aus. Zwei Millionen Bücher und Manuskripte, die Identität einer Nation, gingen in Rauch auf. Die Bibliothek wurde – wie die meisten zerstörten Gebäude Sarajevos - wieder aufgebaut. Dieser Tage wird sie in den ukrainischen Nationalfarben angestrahlt. Das ist mehr als nur eine Solidaritätsbekundung unter vielen.

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