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Die Impfpflicht vom Kopf auf die Füße stellen

Diese Maßnahme hätte keine antiepidemische Wirkung. Es braucht stattdessen die Infrastruktur für ein Recht auf Impfschutz

  • Heinrich Niemann
  • Lesedauer: 4 Min.

Kann eine gesetzliche Impfpflicht für erwachsene Bürger dazu beitragen, die Corona-Pandemie effektiver und schneller zu beenden als die konsequente Umsetzung bisher wirksamer bzw. gebotener Maßnahmen, ohne dass verfassungsmäßige Rechte eingeschränkt werden müssen? Diese Frage gilt nicht weniger, wenn es nur um einen Teil, die über 50- oder die über 60-Jährigen, geht.

Von den weltweit 20 wichtigsten Seuchen kann bisher die Hälfte mit Impfungen erfolgreich bekämpft werden. Dass es so schnell gelungen ist, gegen das neuartige Coronavirus wirksame Impfstoffe zu entwickeln und massenhaft einzusetzen, dass sich so viele Menschen freiwillig haben impfen lassen – in nicht wenigen Teilen fast schon 90 Prozent der Erwachsenen –, sind große Erfolge. Erkrankungsschwere und die Gefahr, daran zu sterben, werden deutlich verringert.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Die Geschichte der Seuchen zeigt, dass eine Impfpflicht unter bestimmten Umständen ein wirksames Mittel ist, um gefährliche Infektionskrankheiten praktisch zu beseitigen. Beispiele sind die Pocken, Tuberkulose, Poliomyelitis und zuletzt die Masern. Die in vielen Ländern angewendete Impfpflicht gilt jedoch praktisch nur für die Kinderjahrgänge, nicht aber für die gesamte Bevölkerung.

Es müssen zwingende medizinisch-fachliche Voraussetzungen und gesellschaftliche Bedingungen gegeben sein, um eine gesetzliche Pflicht zu rechtfertigen. Die Impfstoffe müssen die erforderliche antiepidemische Wirkung haben. Sie gewährleisten nicht nur einen individuellen Schutz, sondern es tritt auch ein (solidarischer) Schutz der Bevölkerung ein – es werden so weitere Erkrankungen und Todesfälle im Fall des erreichten Durchimpfungsgrades praktisch ausgeschlossen. Anders gesagt: Die Impfung dient der Ausrottung einer Seuche insofern, weil durch die erreichte (dauerhafte bzw. ausreichend andauernde) Immunität der Geimpften und die verlorene Ansteckungsfähigkeit die Epidemie zum Stillstand zu bringen ist. Das war bzw. ist bei den Pocken, bei Keuchhusten, Poliomyelitis oder Masern gegeben.

Diese antiepidemische Wirkung ist bei den bisher gegen Covid-19 angewendeten Impfstoffen jedoch nicht zu erkennen. Selbst bei einem noch höheren Durchimpfungsgrad ist die Gefahr einer weiteren Infektiosität und einer Ausbreitung der Krankheit nicht überwunden, wie die Verbreitung der Omikron-Variante zeigt. Bei dieser Sachlage eine Impfpflicht zu verordnen, könnte zudem als Nebeneffekt eine Vernachlässigung der anderen antiepidemischen Maßnahmen befördern, nicht zuletzt auch der Entwicklung von Medikamenten.

Darin besteht medizinisch-fachlich wie epidemiologisch der entscheidende Unterschied zu den bisherigen Pflichtimpfungen. Gerade an den Problemen, die es auch bei diesen Krankheiten gegeben hat, ist diese ausschlaggebende epidemiologische Wirkung zu zeigen. Nur ein Beispiel: 1975 nahm die Ständige Impfkommission (Stiko) die Empfehlung der Impfung gegen Keuchhusten zurück. Die Impfrate ging auf unter zehn Prozent zurück. Die Neuerkrankungen stiegen auf mehr als 180 je 100 000 Einwohner und Jahr, Sterbefälle traten auf. Parallel wurde in der DDR weiter entsprechend dem verpflichtenden Impfkalender gegen Keuchhusten geimpft. Die Inzidenz sank im gleichen Zeitraum von etwa 200 auf fast null. 1991 revidierte die Stiko ihre Empfehlung, und es wurde ein neu entwickelter Impfstoff eingesetzt.

Neben der medizinisch-epidemiologischen Begründung ist zu klären, ob überhaupt die Infrastruktur vorhanden ist, eine Impfpflicht umzusetzen. Es geht hier um die praktische organisatorische Frage, nicht um die juristische. Ihre Unterschätzung hat sich schon bei der bereits erlassenen einrichtungsbezogenen Impfpflicht auf ungute Weise gezeigt.
Ich stelle die These auf: Wenn ein Staat eine Impfpflicht – präziser: einen hohen Durchimpfungsgrad der Bevölkerung – für erforderlich hält, dann ist er selbst in der Pflicht, die Impfungen praktikabel und zugleich sozial gesichert zu organisieren. Dazu scheint unser Land zurzeit jedoch nur bedingt in der Lage. Es braucht zum Beispiel die Kenntnis der Geimpften bzw. noch nicht geimpften Menschen. Überhaupt zeigt die epidemiologische und medizinstatistische Erfassung der Corona-Pandemie große Lücken und Mängel. Nicht einmal ein Impfregister schien bisher möglich. Vor allem aber geht es um eine niederschwellige dezentrale Infrastruktur, auch um aufsuchende Arbeit und vertrauliche ärztliche Beratung. Eine Beratungspflicht könnte wohl ein zielführendes Mittel sein, weil dann die Entscheidungsfreiheit respektiert wird. All das gilt natürlich auch dann, wenn nur bestimmte Altersgruppen wie die über 60-Jährigen verpflichtet würden.

Aber – das ist die zweite Seite dieser Medaille – eine solche funktionierende Infrastruktur wäre aufbaubar. Dafür gibt es Beispiele in einigen Städten oder Einrichtungen. Die Analyse des bisherigen Impfvorgehens zeigt, dass »Kampagnen« oder Medienaufklärung allein solche Strukturen nicht ersetzen können.

Meine These aus internationaler und historischer Erfahrung: Wenn ein Staat eine funktionierende Infrastruktur für das Impfen betreibt, dann wäre eine Impfpflicht wohl entbehrlich. Man sollte also die »Pflicht« vom Kopf auf die Füße stellen: Den Bürgern wird ein Recht auf kostenlose Impfungen mit sicher geprüften Impfstoffen gewährt, und der Staat ist in der Pflicht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Eine gesetzliche Impfpflicht hingegen ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu befürworten.

Heinrich Niemann ist Facharzt für Sozialmedizin und war bis 2001 Gesundheitsstadtrat im früheren Berliner Bezirk Hellersdorf. In der DDR hat er Erfahrungen mit erfolgreichen Impfkampagnen gesammelt.

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