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Keine sichere Mehrheit für Impfpflicht
Warum die Abstimmung über eine allgemeine Vorschrift Spannung bis zum Schluss verspricht
Es ist ein letzter Versuch der Rettung der allgemeinen Impfpflicht gegen Covid 19: Die Initiator*innen der beiden Gesetzentwürfe für eine Nachweispflicht ab 18 und - optional - ab 50 Jahren haben sich am Dienstag zu letzten Verhandlungen getroffen. Herausgekommen ist ein Kompromissvorschlag, der zwei wesentliche Punkte vorsieht.
Zugeständnis der SPD- und Grünen-dominierten interfraktionellen Gruppe um die Abgeordneten Heike Baehrens und Janosch Dahmen, der auch drei FDP-Abgeordnete und vier Mitglieder der Linksfraktion angehören: Das Alter, ab dem eine Impfpflicht gelten soll, wird auf 60 erhöht. Zugeständnis der Gruppe um den liberalen Gesundheitsfachmann Andrew Ullmann, zu der ebenso mehrere Sozialdemokraten und einige Grüne gehören: Die Impfpflicht soll definitiv ab Oktober gelten und benötigt keinen zusätzlichen Beschluss des Bundestages, wie ihn der ursprüngliche Gesetzentwurf dieser Gruppe für alle ab 50 Jahren vorgesehen hatte. Allerdings soll der Bundestag die Impfpflicht durch einen Beschluss auch wieder aussetzen können.
Grundlage hierfür soll die Prüfung sein, ob die vorgeschaltete Beratungspflicht die Impfquote ausreichend erhöht. Auch sieht der neue Gesetzentwurf den Aufbau eines Impfregisters vor. Ebenso soll der Bundstag danach im Herbst vor dem Hintergrund neuer Virusvarianten über eine Ausweitung der Impfpflicht auf alle Erwachsenen entscheiden. Ganz vom Tisch ist die von Kanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach geforderte Impfpflicht ab 18 also noch nicht. »Uns eint das Ziel einer guten Vorsorge durch eine möglichst hohe Grundimmunität aller Erwachsenen für den Herbst, denn so können wir eine Überforderung des Gesundheitssystems verhindern«, heißt es in dem Papier, das »nd« vorliegt.
Signale aus dem Gesundheitsausschuss
Der neuerliche Kompromiss war notwendig geworden, weil erste Zugeständnisse der Gruppe Baehrens unter den Mitgliedern der Ullmann-Gruppe und in der Unionsfraktion, deren Unterstützung bei der Abstimmung am Donnerstag für eine sichere Mehrheit notwendig ist, auf Ablehnung gestoßen waren.
Nun hat man sich zumindest mit der Ullmann-Gruppe einigen können. Fraglich bleibt aber, wie sich die Union, die einen eigenen Antrag für ein Impfvorsorgegesetz eingebracht hat, verhalten wird. Fraktionschef Friedrich Merz hatte am Dienstag angekündigt, man wolle beim ursprünglichen Vorhaben bleiben: »Wir sind nicht nur nach wie vor, sondern mehr denn je davon überzeugt, dass dies der richtige Antrag ist.« Aus dem Gesundheitsausschuss wurden am Mittwoch unterschiedliche Signale gesendet: Der »Spiegel« meldete unter Berufung auf Teilnehmer*innen, der Union-Gesundheitspolitiker Tino Sorge habe Gesprächsbereitschaft signalisiert. Nach Informationen von »nd« haben Teilnehmer*innen aber »keine ausgestreckte Hand« wahrgenommen.
Warum ist die Union so wichtig? Unter den Ampel-Fraktionen gibt es aufgrund einer weiteren Gruppe um denn stellvertretenden Bundestagspräsidenten Wolfgang Kubicki (FDP), die eine Impfpflicht generell ablehnt, keine sichere Mehrheit für den Kompromissvorschlag. Zudem ist ungewiss, ob alle Angehörigen der bisherigen Untergruppen den Kompromiss mittragen werden. Wenn die Union sich nicht wenigstens enthält - denn bei der Abstimmung reicht die einfache Mehrheit, es kommt also auf das Verhältnis von Ja- und Nein-Stimmen an -, könnte das Ergebnis sehr knapp ausfallen.
Prognosen zu treffen, fällt nicht leicht. Einerseits wird die Union Kanzler Scholz nicht helfen wollen. Andererseits hat sie ihre eigenen Ministerpräsidenten im Nacken, die einer Impfpflicht deutlich aufgeschlossener gegenüberstehen und sich teilweise sogar im Wahlkampf befinden wie Nordrhein-Westfalens Regierungschef Hendrik Wüst.
Auch die Reihenfolge kann entscheiden
Letztlich könnte für die Impfpflichtbefürworter*innen die Abfolge der Abstimmungen über die einzelnen Anträge und Gesetzentwürfe gegenüber dem eigentlichen Inhalt des Kompromisses sogar das schärfere Schwert sein. Wahrscheinlich ist folgende Reihenfolge: erst der AfD-Antrag gegen jede Impfpflicht, dann der Antrag der Kubicki-Gruppe, dann der der Union, zum Schluss der Ü60-Kompromiss der Gruppen Baehrens und Ullmann. Wenn der Bundestag, was wahrscheinlich ist, die ersten drei Anträge ablehnt, hieße es am Ende »alles« oder nichts. Ein riskantes Spiel für Lauterbach und Co., aber auch die Unionsfraktion würde dann unter Druck stehen.
Wenige Stunden vor der endgültigen Entscheidung ist die Anspannung auf allen Seiten zu spüren. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann forderte die Union auf, die Kompromisslösung mitzutragen. Derweil ermahnte deren Führung ihre Abgeordneten zur Disziplin: »Nehmen Sie an allen Abstimmungen teil, stimmen Sie unserem Antrag zu, lehnen Sie die übrigen Vorlagen ab«, heißt es in einem Schreiben des Parlamentsgeschäftsführers Thorsten Frei, der am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP vorlag. Und weiter: »Falls unser Antrag keine Mehrheit findet, sollte dem Impuls widerstanden werden, anderen Vorlagen zuzustimmen, nur, damit es irgendein Ergebnis gibt.«
Zumindest der wegen seiner Unentschiedenheit bei der Quarantänepflicht angezählte Karl Lauterbach geht davon aus, dass die Impfpflicht am Donnerstag kommt.
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