- Berlin
- Rechte Gewalt
Weniger Organisation, mehr Angriffe
In Lichtenberg steigt die Zahl rechtsextremer und diskriminierender Vorfälle weiter an
Jeden Tag wird im Berliner Stadtteil Lichtenberg rechtes Propagandamaterial verteilt, also zum Beispiel Flugblätter in Briefkästen eingeworfen oder Aufkleber, Plakate und Schmierereien angebracht. 385 solcher Vorfälle wurden im Jahr 2021 beim Lichtenberger Register zur Erfassung extrem rechter und diskriminierender Vorfälle gemeldet, sagt Mitarbeiter Michael Mallé am Donnerstag bei der Vorstellung des Berichts im Lichtenberger Rathaus. Die Anzahl der beim Register gemeldeten Vorfälle im Bereich hat sich im Vergleich zu 2020 um 41 Meldungen erhöht.
»Es sind nicht nur Propagandadelikte, sie schreiten auch zur Tat. Das ist das, was es so gefährlich macht«, sagt Bezirksbürgermeister Michael Grunst (Linke). Um gegen rechtsextreme Einstellungen und Taten vorzugehen, sei es wichtig, die Zahlen der Vorfälle im Bezirk ernst zu nehmen und gegebenenfalls politische Gegenmaßnahmen anzupassen.
In Lichtenberg Mitte wurden 216 der 523 Fälle gemeldet, in Lichtenberg Nord 124. Darauf folgen 81 Meldungen in Neu-Hohenschönhausen, 50 Meldungen in Alt-Hohenschönhausen, 18 Meldungen in Lichtenberg Süd.
27 Meldungen sind nicht ortsspezifisch zuzuordnen, sieben Meldungen erfolgten demnach im Internet.
Aus der Chronik: 12. November: Rassistische Beleidigung in einer Schule, 17. November Antimuslimische Pöbelei im Bus in Neu-Hohenschönhausen, 21. November: Neonazi-Pöbelei nahe Rummelsburger Bucht, 24. November: Antisemitische Äußerungen vor Testzentrum in Karlshorst, 26. November: Anti-Schwarzer Angriff in Lichtenberg Nord loz
»Lichtenberg hat sich immer zur Aufgabe gemacht, Rechtsextremismus, Rechtspopulismus, Rassismus, Antisemitismus zu bekämpfen und auch zu gucken, wie kriegt man dieses Gedankengut aus den Köpfen raus. Und dazu gehört eine Bestandsaufnahme, wo, wie und was passiert«, so Grunst.
Dass es in der Tat nicht bei »Propagandadelikten« bleibt, zeigen die Meldungen beim Register deutlich. »Angriffe, Bedrohungen und Beleidigungen bleiben auf konstant hohem Niveau«, so Mallé. Das sei vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Berliner Register in diesem Jahr erstmals auf Daten über Gewalttaten aus den Ermittlungsbehörden verzichten mussten. Infolgedessen sei die Anzahl solcher Vorfälle berlinweit zurückgegangen, nur in Lichtenberg haben sich die Meldungen von Angriffen von 25 auf 27 und die Meldungen von Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien von 43 auf 46 erhöht.
»Die Angriffe, die wir haben, stellen eine qualitative Steigerung zu den letzten Jahren dar«, sagt Mallé. Bekannt geworden durch die Verbreitung in Sozialen Medien seien zwei Angriffe: Im August wurde eine Person in Fennpfuhl transfeindlich beleidigt und mit einer Schusswaffe bedroht, im November wurde ein Vater mit seinem Kind anti-schwarz-rassistisch angegriffen.
»Diese Vorfälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Wir haben im letzten Jahr mehrere Angriffe mit Schuss- und Stichwaffen, alleine drei Vorfälle mit Schusswaffen im Bezirk gehabt«, so Mallé. Rassistische Angriffe, Angriffe auf politische Gegner*innen bis hin zu einem Angriff auf einen Obdachlosen im Rathauspark mit lebensgefährlichen Folgen habe es ebenfalls gegeben.
Insgesamt sind im letzten Jahr 523 Vorfälle an das Lichtenberger Register gemeldet worden, das ist der Höchststand seit der Einrichtung der Meldestelle im Jahr 2007 und ein Anstieg im Vergleich zum Vorjahr mit 421 Fällen um 24 Prozent. Werden die Meldungen von Aufklebern unter fünf Stück hinzugezählt, wie es die anderen Registerstellen in der Stadt machen, sind es 732 gemeldete Vorfälle.
»Bei der Ortszuteilung gab es keine Überraschungen. Lichtenberg Mitte und Lichtenberg Nord sind weiterhin die Schwerpunkte rechtsextremer Organisierung im Bezirk«, sagt Mallé. Ein auffälliger Aspekt der Auswertung sei, dass die Zahlen der Vorfälle steigen, während die rechtsextreme Organisierung im Bezirk zurückgehe, so Mallé. »Ein großer Teil des Propagandamaterials wird nicht von rechtsextremen Parteien oder anderen Organisationen verteilt, sondern die Personen bestellen es selbstständig im Internet«, sagt er.
Die einzige Neonazipartei, die in Lichtenberg eine Rolle spiele, sei die Partei »III. Weg«. Doch die dort Aktiven wohnten nur zu einem geringen Anteil selbst in Lichtenberg, viele reisten aus anderen Bezirken oder dem Berliner Umland an, weil Lichtenberg aufgrund seiner Geschichte rechtsextremer Organisierung als Anlaufpunkt für Neonazis betrachtet werde.
»Die Partei versucht, die Leerstelle der organisierten Rechten im Bezirk zu füllen, und es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft und der Lokalpolitik, da auch im nächsten Jahr ein Auge drauf zu haben, wie sich das weiterentwickelt«, sagt Mallé.
Bezirksbürgermeister Michael Grunst teilt die Einschätzung, dass rechtsextreme Organisierung in Lichtenberg seit den 1990er und 2000er Jahren zurückgegangen sei. »Überall, wo wir bemerken, dass wieder eine Alltagsstruktur aufgebaut wird, werden wir sofort dagegenhalten. Sowohl mit politischen Mitteln als auch mit Mitteln des Rechts«, so Grunst. So sei kürzlich ein Antisemitismusbeauftragter berufen worden. Man wolle mehr Aufmerksamkeit schaffen für die Stellen, bei denen sich Bürger*innen im Fall von erfahrener Diskriminierung melden können und plane eine intensive Auswertung zum Problem rassistischer Benachteiligung auf dem Wohnungsmarkt.
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