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Neutralität im Norden Europas vor dem Ende
Ein »Erfolg« Putins: Es ist möglicherweise nur noch eine Frage von wenigen Wochen, dass Finnland und Schweden die Nato-Mitgliedschaft beantragen
Der nun schon über zwei Monate andauernde Angriffskrieg Moskaus gegen die Ukraine hat in Finnland und Schweden zu einem Sinneswandel in Bezug auf die Nato geführt. Die Regierungen beider Staaten wollen sich gemeinsam um eine Aufnahme in das größte Militärbündnis bewerben. Als Termin wird bislang die Woche vom 16. bis zum 22. Mai genannt. Erst dann kann sich die Nato offiziell mit den Wünschen befassen, doch dass die 30 Mitgliedsstaaten der Aufnahme zustimmen, gilt auch aus der Sicht von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg als sicher.
Schweden ist seit dem Ende der Napoleonischen Kriege im 19. Jahrhundert militärisch blockfrei. Die nicht immer getreuliche Politik der Neutralität ist seither ein wichtiger Bestandteil des kollektiven Bewusstseins in der schwedischen Gesellschaft. Noch im vergangenen Herbst hatte die neu gewählte sozialdemokratische Premierministerin Magdalena Andersson in ihrer Regierungserklärung deutlich gemacht, dass man an der Blockfreiheit festhalten und weiterhin außerhalb der Nato bleiben werde. Aktuellen Umfragen zufolge spricht sich nun aber mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger für einen Nato-Beitritt Schwedens aus. In Finnland sind es inzwischen schon über 60 Prozent der Bevölkerung.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Auf diplomatischem Parkett herrscht spätestens seit Anfang dieses Monats Eiszeit, als Schweden drei Mitarbeiter der russischen Botschaft zu unerwünschten Personen erklärte. Am Dienstag teilte das russische Außenministerium mit, es habe den schwedischen Botschafter in Moskau einbestellt, um gegen die Ausweisung der Diplomaten und die »militärische Unterstützung« des EU-Landes für die Ukraine zu protestieren. Das Ministerium warf Schweden außerdem vor, »Verbrechen ukrainischer Nationalisten gegen die Zivilbevölkerung im Donbass und in der Ukraine« zu vertuschen.
Sowohl Schweden als auch Finnland haben – obgleich ihre gut organisierten Streitkräfte relativ klein sind – bereits in der Vergangenheit sehr eng mit der Nato zusammengearbeitet. Dennoch galt vor allem Finnland, dessen wechselhafte Geschichte eng und oft auch blutig mit der russischen und der sowjetischen verbunden war, als eine Art Brücke zwischen Ost und West. Der Entspannungsprozess von Helsinki, der 1975 zur sogenannten KSZE-Schlussakte führte, ist gleichsam ein Symbol für die ausgleichende finnische Politik zu Zeiten des Kalten Krieges.
Nach der Auflösung der UdSSR suchte Helsinki jedoch einen engeren Anschluss an den Westen und trat wie Schweden 1995 der EU bei. Auch militärisch orientierten sich beide nordischen Staaten an der Nato. Sie nahmen an Übungen der Allianz teil und schickten Soldaten zu Auslandseinsätzen, die unter Nato-Kommando liefen.
Sowohl Stockholm als auch Helsinki versichern nun, dass sie dem Nato-Grundsatz, nach dem jedes Mitglied zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts ins Militär investieren sollen, selbstverständlich folgen werden.
Die russische Regierung hat indes schon mehrfach klargemacht, dass ein Nato-Beitritt beider Staaten »ernste Konsequenzen« nach sich ziehen werde. Konkreter wurde man bisher nicht. Klar jedoch ist, dass beide Länder gerade in der Beitrittsperiode potenzielles Ziel russischer Attacken sein könnten. Die USA und Großbritannien wollen daher für diese Zeit spezielle Sicherheitsgarantien geben, berichten schwedische Medien. Angeboten werden demnach eine verstärkte Militärpräsenz und intensivere Truppenübungen.
Es gibt es durchaus Gründe für Rückversicherungen dieser Art. So bekam Schweden, das bislang 1,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fürs Militär ausgibt, mehrfach ungebetenen Besuch von Kampfjets, die in der russischen Exklave Kaliningrad gestartet waren. Und Finnlands Grenze zu Russland misst rund 1300 Kilometer. Sie ist nur schwer zu überwachen. Und dann ist da noch der mögliche Streitpunkt Åland. Der aus Tausenden Inseln bestehende Archipel liegt im Bottnischen Meerbusen zwischen Schweden und Finnland. Er hat eigentlich einen entmilitarisierten Status, der in mehreren Abkommen festgelegt wurde. 1940 unterzeichnete das von der UdSSR zuvor überfallene Finnland ein Dokument, das der Sowjetunion das Recht auf militärische Überwachung des Gebietes einräumt. In Ålands Hauptstadt Maarianhamina gibt es sogar ein russisches Konsulat.
Bleiben die Inseln entmilitarisiert? Eine Truppenstationierung welcher Art auch immer könnte Anlass für neue Konflikte mit Russland sein. Aber: Als Teil des finnischen Staatsgebietes müsste die Nato künftig auch dieses Areal sichern und verteidigen.
Die Aufgaben der beiden Staaten im Nato-Bündnis werden sich aber nicht nur auf deren eigenes Gebiet begrenzen. Schwedens Häfen sind lukrativ für Nato-Flottenverbände. Die Flugplätze sind ebenso begehrt. Der estnische Verteidigungsminister Kalle Laanet deutete dieser Tage zudem an, dass man sich auf Finnlands neue F-35-Kampfjets freue, die bei der Überwachung des Luftraumes helfen könnten. Denkbar ist auch, dass man die beiden Staaten in das Multinational Corps Northeast der Nato eingliedert. Der Stab sitzt im polnischen Szczecin und wird von Jürgen-Joachim von Sandrart, einem Drei-Sterne-General der Bundeswehr, geführt.
Bereits jetzt versucht Finnland, sich gegen russische Attacken abzusichern: Der Sicherheits- und Nachrichtendienst (SUPO) ruft unter anderem dazu auf, Vorkehrungen für den Fall hybrider Operationen zu treffen. Um Cyberattacken vorzubeugen, die die gesamte Gesellschaft treffen könnten, hat Finnland am Sonntag den Stromimport aus Russland von bisher 1300 auf maximal 900 Megawatt reduziert. Der Export von 320 Megawatt nach Russland bleibt davon unbenommen: Auch künftig will man die im jüngst fertiggestellten Atomkraftwerk Olkiluoto erzeugte Energie verkaufen.
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