Die Luft nach oben

Die Reise nach Peking dauerte fast zwei Jahre: Ein Coronavirus-Bericht

  • Christian Y. Schmidt
  • Lesedauer: 16 Min.

Es gibt bereits einige deutschsprachige Menschen, die über ihre Rückreise nach China und die anschließende Quarantäne geschrieben haben. Es sind in der Regel kürzere Berichte, die für Tageszeitungen oder Onlinemagazine geschrieben wurden. Gemeinsam ist aber fast allen, dass sie explizit oder zumindest unterschwellig suggerieren, dass die Quarantäne und andere chinesische Maßnahmen wie zum Beispiel das Desinfizieren von Räumen und Gepäck übertrieben sind.

Einzig die Projektmanagerin Anan Xu hat an den zwei Wochen in einem Shanghaier Hotelzimmer gar nichts auszusetzen, sondern sieht sie sogar positiv: »Ich habe es sehr genossen,« schreibt sie auf der Seite von storymaker.de, »Zeit für mich selbst zu haben. In der zweiten Woche habe ich aus dem «Quarantäne Home-Office» gearbeitet, dabei ist die Zeit wirklich geflogen und ich konnte ganz vergessen, dass ich ja noch in Quarantäne war.« Kein Wunder: Anan Xu ist Chinesin. Ihr ist offenbar klar, dass die Quarantäne ein notwendiges Übel ist, und freut sich, dass sie auch ihre guten Seiten hat.

Christian Y. Schmidt
Christian Y. Schmidt ist Schriftsteller und Journalist. Er lebt seit 2005 in Peking. Am 12. Februar 2020 flog er nach Berlin, um sein Buch »Der kleine Herr Tod« vorzustellen. Wegen der Corona-Pandemie dauerte es fast zwei Jahre, bis er zurückkehren konnte. Nun kann er sich dort wieder testen lassen. Über seine Corona-Zeit veröffentlicht er nun beim Hybriden Verlag das Künstlerbuch »Quarantäne Updates Shanghai«, aus dem wir einen Auszug drucken.

Es gibt in Deutschland kaum genaues Wissen darüber, wie die Rückkehr aus dem Ausland in der Pandemie läuft. Aus diesem Grund habe ich meine Rückkehr nach Peking, die insgesamt fast zwei Jahre dauerte, als einen Feldforschungsbericht verfasst. Ich verbinde mit dieser Darstellung die Hoffnung, dass man aus ihr etwas für die nächste Pandemie auch im Westen lernen wird, denn die kommt so sicher wie das Amen in der Kirche. Viele Maßnahmen, die ich am eigenen Leib erfahren habe, lassen sich durchaus übernehmen, ohne dass man die demokratische Verfasstheit des eigenen Staates aufgeben muss.

Nur nach Hause geht es nicht

Am 12. Februar 2020 verließ ich unsere Wohnung in Peking und flog mit dem bis heute letzten Direktflug überhaupt nach Berlin. Der Flug war von mir vor der Corona-Pandemie gebucht worden. Ich wollte in Deutschland mein neues Buch vorstellen, und am 1. April wieder nach Peking zurückkehren. Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass in der Zwischenzeit eine Pandemie ausbrechen würde, doch als sie dann da war, ging ich davon aus, dass die chinesischen Behörden sie recht bald wieder unter Kontrolle bringen würden. Nie im Leben hatte ich gedacht, dass es fast zwei Jahre dauern würde, bis ich zu meiner Frau Yingxin zurückkehren könnte.

Ich hatte nicht mit dem Versagen nahezu der gesamten westlichen Welt bei der Seuchenbekämpfung gerechnet. Dieses Scheitern bei der Bekämpfung des Virus hatte zur Folge, dass die Infektionszahlen außerhalb Chinas sehr bald explodierten, so dass die chinesische Regierung als Reaktion darauf am 28. März 2020 das Land nahezu komplett für ausländische Staatsbürger schloss. Ausgenommen waren jetzt nur Diplomaten und unentbehrliche Experten mit speziellen Visa. Ich musste bis zum 20. Juli 2021 warten, bis ich es schaffte, einen Flug am 16. September von Frankfurt am Main nach Chengdu, der Hauptstadt Sichuans, für sagenhafte 1 430 Euro zu buchen. Das ist zwar doppelt so viel, wie ein Hin- und Rückflug in Vorpandemie-Zeiten, aber zu diesem Zeitpunkt war es ein veritables Schnäppchen.

Rund einen Monat lang sah ich meinem Rückflug mit einiger Zuversicht entgegen. Ich verabschiedete mich nach und nach von meinen Berliner Freundinnen und Freunden. Für Ende August verabredete ich einen Abschiedsbesuch bei meinen über neunzigjährigen Eltern in ihrem Altersheim bei Hamburg. Da ich keine Ahnung hatte, wann es wieder möglich sein würde, aus China zurückzukehren, hätte es vielleicht das letzte Mal sein können, sie überhaupt noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Doch dann kam schon wieder alles anders.

Es war der Morgen des 19. August, als mich überraschend eine SMS von Air China erreichte: der Flug war abgesagt. Ich wusste, es hatte gerade einen kleinen Corona-Ausbruch in Nanjing gegeben. Aber musste man deswegen den Flug streichen?

Das buchen, was man kriegt

Am Nachmittag desselben Tags telefonierte ich sehr lange mit Air China Europe. Hier wurde mir erklärt, dass man mir bis zum 7. November 2021 keinen Flug mehr buchen könne. Wenn ich einen früheren Termin wollte, müsste ich mich direkt an die Air China Zentrale in Peking wenden. Weil die Nummer eine reguläre war, und ich keine Lust hatte, für eine halbe Stunde in der Warteschleife internationale Telefongebühren zu bezahlen, bat ich meine Frau in Peking, dort anzurufen. Sie erreichte, dass ich auf eine Warteliste für Flüge in der Woche vom 13. bis 19. September nach Chengdu gesetzt wurde. Als Kontakt gab sie ihre chinesische Telefonnummer an.

Schon am 24. August erhielt Yingxin eine SMS, die sie umgehend an mich weiterleitete. In ihr stand, dass im September und Oktober 2021 noch einige Plätze auf Flügen nach Chengdu und Shanghai erhältlich seien. Ich antwortete zwei Minuten später: »Buche, was Du bekommen kannst.« Fünfzehn Minuten darauf antwortete meine Frau, ich könnte zwischen einem Flug am 9. Oktober nach Shanghai und einem am 10. Oktober nach Chengdu wählen. Ich entschied mich für den nach Chengdu, weil der Flug nach Shanghai mit einem Aufpreis verbunden war. Nach mehr als einem Jahr Wartezeit kam es auf einen Tag mehr oder weniger nun wirklich nicht mehr an.

Bereits gegen Ende August stiegen die Corona-Infektionszahlen in Deutschland wieder stark an, was aber kaum mehr einen interessierte. Ich sah diese Entwicklung auch deshalb mit Bangen, weil ich inzwischen wusste, dass selbst fest gebuchte Flüge keine Garantie bedeuten, nach China zu kommen. Trotzdem nahm ich am 22. September ein zweites Mal schweren Herzens Abschied von meinen Eltern. Eigentlich war es das dritte Mal, denn schon im Oktober des Vorjahres hatte ich bei ihnen einen solchen Abschiedsbesuch gemacht.

Plötzlich eine Variation

Meine Befürchtungen waren berechtigt, denn auch dieser Flug fiel aus. Doch dieses Mal gab es eine Variation. Am frühen Morgen des 28. September rief mich meine Frau an, und meldete, dass der Flug um drei Tage vorgezogen worden sei, auf den 7. Oktober. Er würde jetzt auch nicht mehr nach Chengdu gehen, sondern nach Changchun in der Mandschurei, rund 1000 Kilometer nordöstlich von Peking. Ich war nicht froh über die Vorverlegung, denn ich musste ein paar fest geplante letzte Verabredungen platzen lassen und zum dritten Mal den Testtermin verlegen. Aber natürlich sagte ich zu.

Schon am nächsten Morgen wusste ich, dass ich mich erneut geirrt hatte. Um 11:05 rief mich meine Frau an und teilte mir mit, dass auch der Flug nach Changchun gecancelt worden sei. Der Grund: In dieser Stadt waren zwei Personen positiv getestet worden, und zwar nach drei Wochen Quarantäne, in der sie die ganze Zeit negativ gewesen waren. Auch dieses Mal war ich wie vor den Kopf geschlagen, hatte aber schon eine gewisse Cancel-Routine. Wie jedes Mal rief ich als erstes beim Testzentrum an, bei dem ich am nächsten Morgen meinen Testtermin gehabt hätte. Eine Frau mit einem russischen Akzent am anderen Ende blieb ungerührt: »Da ist noch Luft nach oben. Hier haben schon Leute, die nach China wollten, vier Mal ihren Termin absagen müssen.«

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Hoffnung praktisch aufgegeben, noch im Jahr 2021 zurück nach China zu kommen. Das sah auch die Sachbearbeiterin bei Air China in Peking so: Es gäbe in 2021 so gut wie keine Flüge mehr aus dem Ausland in chinesische Provinzstädte wie Chengdu oder Changchun. Die große Ausnahme sei Shanghai, wohin Air China von Deutschland aus noch einmal die Woche fliegen würde. Ab und zu würde hier noch ein Platz frei. »Auf den hat man aber nur eine Chance«, erzählte mir dann meine Frau, »wenn man jeden Morgen Punkt neun Uhr bei der Fluggesellschaft anruft und nachfragt.«

Am Dienstagmorgen, den 12. Oktober 2021, 8:07, rief Yingxin mich an und verkündete triumphierend: »Ich habe es geschafft. Du fliegst am Samstag, den 6. November um 19:00 Uhr von Frankfurt nach Shanghai.« Ich dachte, sie würde Witze machen, und fragte, wie sie denn das geschafft hätte. »Ganz einfach. Ich habe um zwei Minuten vor Neun angerufen. Da bekam ich die Auskunft: Sie sind zu früh. Rufen sie genau Neun an oder später. Dann habe ich gebettelt, ob ich nicht in der Leitung bleiben dürfe. Und weil sie mich ja inzwischen schon gut kannten, durfte ich. Um Punkt 9 Uhr habe ich dann deinen Platz bekommen.« Der komplette Wahnsinn.

Ein Jahr, acht Monate, vier Wochen später

Noch 130 Kilometer, 100, 70, 30, 20 und dann sind wir da. Flug CA934 von Frankfurt ist um 14:04 Uhr Ortszeit in Shanghai-Pudong gelandet. Fast zwei Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Jetzt fühlt es sich so an wie zig Landungen zuvor im Leben.

Es ist Sonntag, der 7. November 2021, 14:04 Uhr, auf dem Flughafen Shanghai- Pudong. Der erste Checkpoint: Ein Tisch vom chinesischen Zoll, der offensichtlich mit dem Gesundheitsmonitoring internationaler Flüge beauftragt ist. Verstehe jetzt, warum ich den zusätzliche Health Declaration Code vom Zoll schon in Frankfurt herunterladen musste, den ich für ein bisschen redundant hielt. Am Checkpoint stehen und sitzen einige Männer, selbstverständlich in Hazmat-Anzügen. In diesem Moment wird mir klar, dass ich in den nächsten zwei Wochen keinen normal gekleideten Menschen mehr zu Gesicht bekommen werde, jedenfalls in meiner unmittelbaren Nähe. Momentane Ausnahme noch: Meine Mitpassagiere, soweit sie sich nicht selbst verpackt haben.

Ich muss an einem Aufsteller einen QR-Code scannen, um einen frischen Health Declaration Code vom Zoll aufs Handy zu bekommen, denn der aus Frankfurt ist ja bereits abgelaufen. Allerdings funktioniert mein großartiges Aldi-Talk-Auslandspackage nicht - vielleicht bin ich auch zu doof, es zu aktivieren -, so dass ich den Code zunächst einmal wieder nicht herunterladen kann. Kein Problem für die Zoll-Hazmatis: Ich darf mich in das Zoll-WLAN einloggen. Ein Zöllner gibt das Passwort ein. Ich hoffe, ich verrate kein Staatsgeheimnis, wenn ich schreibe, dass es acht Mal 1 lautet. Dieses WLAN-Passwort hat man übrigens öfter in China, genauso wie 8 mal die 8 - bringt Glück, aber wahrscheinlich nur dem Hacker - oder eben die klassische Zahlenreihe 1,2,3,4,5,6,7,8. Hätte ich auch von alleine drauf kommen können.

Im Setting von »Squid Game«

Der Treppe folgt ein weiterer labyrinthischer Gang, der schließlich aus dem Abfertigungsgebäude heraus zu einer aus Containern errichteten, langgezogenen Baracke führt, die dicht an den Terminal herangestellt wurde. Das ganze Setting erinnert etwas an die koreanische Serie »Squid Game«. Durch die Fenster sehe ich, dass drinnen rund fünfzig Abstrichschalter eingerichtet sind. Vielleicht dreißig davon sind geöffnet. Jetzt wird also getestet. Ein Hazmati bedeutet mir, mich vor dem äußerst linken Schalter - wo sonst? - aufzubauen. Natürlich tragen alle Hazmatis auf dem Flughafen Latex-Einweghandschuhe. Trotzdem wird laufend jede denkbare Fläche desinfiziert, und zwar in einem Maße, wie ich es in Deutschland noch nicht gesehen habe.

Am Sonntag, den 7. November 2021, kurz vor 18 Uhr stehe ich am provisorischen Rezeptionstisch eines »Holiday Inn Express« irgendwo in den Suburbs von Shanghai. Links von mir ein Absperrband, dahinter Stapel grellgelber Mülltonnen, ungefähr 2,50 Meter hoch. In diesen Tonnen wird offenbar der Giftmüll entsorgt, den wir Ankömmlinge aus Seuchendeutschland während unseres Aufenthaltes produzieren werden. Rechts von mir niedrige Absperrgitter, die mich und die anderen Wartenden von dem Rasen trennen, der den Hotelhof bedeckt. Das Hotel selbst besteht aus mehreren vierstöckigen Kästen, die - das kenne ich aus Südchina und Südostasien - auf Betonstelzen stehen, so dass das Erdgeschoss im Freien liegt, aber überdacht ist.

Ein gelbbeige gestrichener Gang ohne einen Hauch von Dekoration. Squid Game all over again. Ein Wegweiser zu den Zimmern 5030 - 5045. Eine Halle, die nach Chlor stinkt. 5040, 5041, 5039. Wo ist denn jetzt 5038? Ah, hinter dem Wandvorsprung, etwas versteckt. Ein blaues Schild mit der Nummer, darunter ein kleines, sechseckiges Tischchen. Ich lege meine Papiere drauf, mache ein paar Fotos und fitzele meine Zimmerkarte aus dem Umschlag.

Zehn Meter im Zimmer

Die Tür geht auf und ich stecke die Karte in den dafür vorgesehen Schlitz, um das Licht anzumachen. Das Pärchen verschwindet in den beiden Zimmer rechts neben mir. Sie dürfen die nächsten vierzehn Tage nicht zusammen sein, aber wenigstens haben sie zwei Zimmer nebeneinander. Ich greife mir meine Papiere und überschreite dann die Schwelle.

Als allererstes unterziehe ich das Zimmer einem Schnellcheck. Es ist etwa vier Meter breit, und der Abstand von der Tür bis zur Fensterfront beträgt rund zehn Meter. Nicht schlecht, da kann man einigermaßen anständig hin- und herlaufen. Die Fensterfront ist genauso breit wie das Zimmer; da habe ich also was zu gucken. Allerdings sehe ich im Moment nur zwei windgepeitschte Weiden im Laternenlicht und etwas Kanalwasser nahe am Hotel, und in weiter Ferne eine Hochhauswand, auf deren Spitzen rote Lichter blinken sowie ein einzelnes Hochhaus mit der in China so beliebten animierten LED-Fassade. Gerade wird ein Feuerwerk darauf abgebrannt; auch das ein beliebter Standard. Sonst ist wegen Stockfinsternis nichts weiter zu erkennen. Das ist aber egal. Hauptsache, der Blick kann schweifen, und endet nicht an einer Mauer.

Um 18:50 Uhr klopft es an der Tür. Als ich öffne, steht ein Plastikteller auf dem sechseckigem Tischchen, daneben ein Becher Jogurt und eine Mandarine. Ich hole alles ins Zimmer, nehme den Deckel vom Plastikteller ab und entdecke, dass er etwa zwanzig Jiaozi - mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen - enthält, sowie dunklen chinesischen Essig zum Eintunken. Ein schöne Begrüßung. Die Jiaozi kommen gerade Recht, denn ich habe inzwischen wirklich großen Hunger.

Trotz des geschlossenen Fensters bleibt das Zimmer kalt. Dafür funktioniert das WLAN jetzt. Gerade rechtzeitig, denn um 19 Uhr soll das sonntägliche VooV- Meeting mit meiner chinesischen Familie beginnen. VooV, eine APP des chinesischen Internetkonzerns Tencent, ist das chinesische Pendant zu Zoom. Schon von Berlin aus habe ich wöchentlich an diesen virtuellen Familien-Treffen teilgenommen. Auf diese Weise hielt ich den Kontakt zu meiner Frau und meinen Schwiegereltern aufrecht. Außerdem nehmen an diesen Treffen auch meine Schwägerin und mein Schwager im südchinesischen Guangzhou teil, sowie deren Kinder und meine beiden Neffen in Berlin. Lustigerweise habe ich ausgerechnet hier in Shanghai Probleme mich einzuloggen. Am Ende klappt es aber irgendwie doch. Das ist überhaupt ein sehr chinesischer Satz. Viele Dinge, die zunächst unmöglich scheinen, regeln sich in China am Ende irgendwie. Man muss nur manchmal sehr lange warten wie man auch an meiner Rückkehr sieht.

Warme Empfehlungen

Nach der Bildschirmkonferenz habe ich endlich Zeit, die Papiere aus dem Umschlag zu studieren. Punkt 1 der »Warmen Empfehlungen« - die, wie ich langsam begreife, gar keine sind, sondern handfeste Verbote - ist absurd, aber lustig: Durians - die auf Deutsch gerne auch Stinkfrüchte genannt werden, obwohl sie sehr gut schmecken - Flussschnecken-Reisnudeln und andere stark riechende Lebensmittel dürfen nicht ins Zimmer gebracht werden. Wie das gehen soll, wenn man überhaupt keine Pakete und Außerhausbestellungen entgegennehmen darf, würde ich gerne mal wissen. Punkt zwei verbietet ausdrücklich, das Zimmer anzustecken - gut, das ist gelogen - nein, den Gebrauch von offenen Flammen und elektrischen Hochspannungsgeräten. Unter 3 wird dann schließlich ausgesprochen, worum es in einer echten Quarantäne wirklich geht: »Leaving your or leaving for other rooms is strictly forbidden.« Könnte mich jemand beobachten, würde sie oder er mich jetzt nicken sehen: Genau so muss man das machen, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen, und nicht so wie in Deutschland, wo, wenn überhaupt, Quarantäne zu Hause stattfindet, ohne dass sie kontrolliert wird.

Weitere Punkte lauten, dass man in den Zimmern weder rauchen noch Alkohol trinken darf. Okay, das ist nun nicht wirklich erforderlich, unterstreicht aber die Ernsthaftigkeit der Maßnahmen. Unter römisch IV ist dann die Nummer einer medizinischen Hotline abgedruckt. Die soll sofort angerufen werden, wenn man Fieber, Husten, Atemnot oder andere Symptome hat.

Ganz zum Schluss, über zwei farbigen QR-Codes, noch eine, für mich extrem wichtige Information: Der Preis. Ich wusste vorher, dass man sich sein Quarantäne- Hotel nicht aussuchen kann, noch nicht einmal die Kategorie. Das heißt auch, dass es im Zweifel nicht nur teuer - das sind zwei Wochen Hotelaufenthalt sowieso -, sondern sehr teuer werden kann. Um so erleichterter bin ich, als ich lese, dass mein Zimmer 360 RMB pro Tag kosten soll, plus 80 RMB pro Tag für drei Mahlzeiten. Zusammen macht das für die 14 Tage 6160 RMB, was momentan ganz genau 842,72 Euro sind, oder rund 60 Euro pro Tag. Für ein Hotel dieser Kategorie mit Vollpension ist das auch in China sehr günstig. Tatsächlich wird in der chinesischen Version des Zettels erwähnt, dass mein Zimmer in Friedenszeiten 499 RMB pro Nacht kostet.

Bezahlen kann man per WeChat Pay oder AliPay - dafür sind die QR Codes da -, per Kreditkarte oder bar. Auch das ist eine kleine Überraschung, wurde ich doch gewarnt, dass Barzahlung in China inzwischen praktisch nicht mehr möglich sei. Verblüfft bin ich auch über die Sätze, mit denen die »Warning Notice« endet: »I sincerely wish you have a memorable 14 days here.« Ich weiß zwar nicht, wer »I« ist, aber ihr oder ihm kann ich versichern, dass ich den Aufenthalt im »Holiday Inn Express Pujiang« wohl erst dann vergessen werde, wenn der Alzheimer auch meine Erinnerungen an meine größten und schönsten Erfolge (Abitur, erste, zweite, dritte, vierte, fünfte Liebe, Jahrhundertroman) getilgt haben wird.

Das bringt der Tag

7:50 Uhr. Während ich noch nach draußen starre, klopft es. Öffne die Tür. Auf dem Tischchen vor meinem Zimmer steht das Frühstück. Hole das Plastiktablett, den Jogurt und die Mandarine rein, stelle alles auf die Verlängerung des Schreibtischs und mache ein Foto mit dem Handy.

9:45 Uhr. Ein Rudel wilder Hunde kreuzt die planierte Fläche von links nach rechts. Insgesamt sechs oder sieben Tiere.

10:41 Uhr. Versuche mit Hilfe von Google Maps herauszufinden, wo ich genau bin. Die Schnellstraße rechts neben meinem Fensterpanorama ist die S 123, die auch Puxing Highway heiß. Hinten, wo die mutmaßliche Shopping Mal mit der goldenen Kuppel liegt, kreuzt sie die Autobahn S 20, die wenn ich sie verlängere, zum Flughafen führt. Über diese Straße ist offenbar unser Bus gekommen.

11:45 Uhr. Lautes Klopfen. Mittagessen vor der Tür. Beim Reinholen: Stimme der Frau aus dem Nebenzimmer. Sie spricht offenbar mit jemandem vom Personal. Verstehe das Wort »kongtiao« - Klimaanlage. Wahrscheinlich beschwert sie sich, weil die AirCon drüben auch nicht funktioniert. Sehr gut. Muss ich mich nicht drum kümmern.

11:50 Uhr. Mittagessen. Gedämpfte Scampi. Kleine Shizitou - Fleischbällchen - in brauner Soße, zwei Stück. Weißkohl mit Schweinefleischstückchen. Ein großer Batzen weißer Reis. In einem Extraschälchen eine Seetangsuppe, dazu ein Becher süßer Jogurt und ein Apfel. Esse mit Einwegholzstäbchen, die man in der Mitte auseinanderbrechen muss. Außerdem in der Packung: Kleiner brauner Plastiklöffel, winzige Serviette, die kleiner ist als ein Papiertaschentuch, sowie ein Zahnstocher in einer Papierhülle.

17:30 Uhr. Abendessen steht vor Tür. Bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Westler den Großteil der Gerichte nicht essen könnten. Serviert wird Hong Shao Rou, fettes Schweinefleisch mit Schwarte, das so lange gekocht wird, bis es auf der Zunge schmilzt; Maos Leibgericht und auch ich esse es gerne. Außerdem: Dicke gelierte Blutwürfel mit Tofu, gewürzter, gegarter Blumenkohl, grünes, unbekanntes Gemüse. Dazu: Eierstichsuppe, Reis, Jogurt und eine Mandarine. Zum Glück bin ich kulinarisch ein Chinese.

19:20 Uhr. Es wird plötzlich wieder kühl. Hat die Aircon endgültig ihren Geist aufgegeben? Ein Blick auf das Kontrolldisplay: »Filter cleaning«. Offenbar reinigt sie sich öfter selbst. Nach etwa 10 Minuten wird es wieder warm. Reinigung beendet.

20:05 Uhr. Anruf über das Festnetztelefon. Eine weibliche Stimme fragt, ob ich mich »bu shufu« - nicht wohl - fühle. »Wo hen shufu«, antworte ich. »Ich fühle mich sehr wohl.« Aha, das war also die angekündigte tägliche Gesundheitsbefragung.

23:11 Uhr. Werfe eine DM-Melatonin-Kapsel ein, und schlucke zusätzlich einen Teelöffel Baldrian-Tropfen. Tinktur enthält 66% Alkohol. Von wegen: Es gibt keinen Alk in der Quarantäne.

Auszug aus Christian Y. Schmidt: Quarantäne Updates Shanghai, Signiert und nummeriert mit einer Auflage von 100, Hybriden-Verlag. , 128 S., geb., 100 €.

hier erhältlich: https://hybriden-verlag.blogspot.com/2022/02/quarantane-updates-shanghai.html

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.