Sinn Féin kann Geschichte schreiben

Die Parlamentswahl in Nordirland wird die Befürworter der EU und einer irischen Wiedervereinigung stärken

  • Dieter Reinisch, Galway
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 5. Mai dürfte die republikanische Partei Sinn Féin erstmals in der 100-jährigen Geschichte der britischen Provinz Nordirland als stärkste Partei über die Ziellinie schreiten. Politiker, Beobachter und Medien überschlagen sich seit Wochen in Superlativen: Für Mary Lou McDonald, Parteichefin von Sinn Féin, steht Nordirland »vor einem historischen Wandel«. Für den Vorsitzenden der konkurrierenden unionistischen, pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP), Jeffrey Donaldson, ist es »die wichtigste Wahl in einer Generation«. Und der Politikwissenschaftler Jonathan Tonge von der Universität Liverpool erwartet vom Wahlausgang »seismische Verschiebungen«.

Der zu erwartende Wahlsieg von Sinn Féin wird eine Zäsur für Nordirland bedeuten, auch wenn sich für die Menschen dort kurzfristig wenig ändert. Die unionistischen Parteien haben angekündigt, die Zusammenarbeit im Parlament Stormont zu boykottieren, falls Sinn Féin stärkste Partei wird und damit das Recht erhält, ihre Spitzenkandidatin Michelle O’Neill als Regierungschefin zu nominieren. Nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 sollen sich katholisches und protestantisches Lager die Macht teilen. Nordirland steht vor Monaten, vielleicht Jahren der Unregierbarkeit.

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In einer aktuellen Umfrage der »Irish News« liegt Sinn Féin bei fast 27 Prozent der Wählerstimmen. Ihr Rivale DUP käme demnach nur auf 18 Prozent – ein Minus von zehn Prozent gegenüber 2017. Seit dem Brexit befindet sich die Partei in einer tiefen politischen Sinnkrise. Für ihr Abschneiden könnten die Zweitstimmen für die nächst-präferierten Kandidaten bei der reinen Personenwahl entscheidend sein. Im Falle eines Sinn-Féin-Wahlsiegs warnt die DUP vor einer Wiedervereinigung Irlands. Das unionistische Angstszenario dürfte ihr die meisten Zweitstimmen von Anhängern anderer London-treuer Parteien bringen und den Verlust an Erststimmen ausgleichen.

Sinn Féin wiederum dürfte den anderen nationalistischen Parteien – wie der Social Democratic Labour Party (SDLP), die in Umfragen bei 11 Prozent liegt – Zweitstimmen abnehmen. Sie erhält aber auch Zuspruch aus dem liberalen und gemäßigt unionistischen Spektrum. Dessen Wähler lehnen die harten Brexit-Positionen, wie sie von der DUP vertreten werden, entschieden ab.

Eine Überraschung könnte die liberale Alliance Party schaffen. In der Umfrage liegt sie mit 18 Prozent mit der DUP gleichauf. Auch an die von der Alliance vertretene bürgerliche Mittelschicht war die Rede der Sinn-Féin-Politikerin McDonald am Ostersonntag in Belfast adressiert: »Die britische Regierung hat euch im Stich gelassen«, sagte sie vor 2000 Anhängern. »Geht mit uns das nächste Stück des Weges. Bringen wir Irland zurück in die europäische Gemeinschaft!« Mit der Hilfe der liberalen EU-Befürworter sieht Sinn Féin die Chance, die 1921 erfolgte Teilung Irlands rückgängig zu machen. Die Partei machte sich zur Stimme der Brexit-Gegner.
Die liberalen Unionisten sind an sich keine Befürworter einer Wiedervereinigung. Die Aussicht, dadurch zurück in die EU zu gelangen, ist ihnen aber wichtiger als ein Verbleib im Vereinigten Königreich. Sie werden am 5. Mai überwiegend Alliance Party oder Grüne wählen. Sinn Féin hofft, dass ihr Zweitstimmen aus diesem Lager den einen oder anderen Sitz mehr im Parlament sichern werden.

Mit Blick sowohl auf das liberale als auch auf das trotzkistische Spektrum hat Sinn Féin die Forderung nach einer Wiedervereinigung etwas zurückgestellt. Ihre Spitzenkandidatin Michelle O’Neil erklärte: »Die Menschen wachen nicht am Morgen auf und denken an ein vereintes Irland – ihnen macht die soziale Lage Sorgen.«

Da Nordirland im EU-Binnenmarkt verblieb, wurde die Wirtschaft hier weniger stark vom Brexit beeinträchtigt als auf der anderen Seite der irischen See. Dennoch funktionieren die Lieferketten langsamer. Zugenommen hat die Wohnungsnot, die Arbeitslosigkeit blieb hoch.
Trotz solcher Probleme war der Wahlkampf weitgehend inhaltsleer. Sinn Féin präsentiert sich als die Partei der Zukunft für alle Iren und verspricht ein »Jahrzehnt der Chancen«. Die unionistischen Parteien sind dagegen in anti-irische Rhetorik zurückgefallen. Die andere Bevölkerungsgruppe von der Macht fernzuhalten, hat für sie Priorität: Das Nordirland-Protokoll des Brexit-Austrittsabkommens soll weg, ein Referendum über die Wiedervereinigung Irlands lehnen sie ab.

Allerdings ist das unionistische Lager zunehmend zersplittert. Die gemäßigte Ulster Unionist Party (UUP) dürfte etwa 12 Prozent bekommen. Ein großes Fragezeichnen steht hinter der radikalen Traditional Unionist Voice (TUV). Der DUP wirft sie vor, nicht entschieden genug gegen das Nordirland-Protokoll eingetreten zu sein. Bisher hatte sie nur einen Abgeordneten in Stormont. Die Umfragen sehen sie bei 6 Prozent.

Die Trotzkisten rechnen in Belfast und Derry mit Erfolgen. Einzelne Sitze werden an grüne und unabhängige Kandidaten gehen. Dass sie in ein funktionierendes Parlament einziehen, ist wegen der Boykott-Ankündigung der Unionisten unwahrscheinlich. Seit 1998 gab es in Nordirland mehr als acht Jahre keine funktionierende Regierung. Die Fortschreibung der politischen Krise wird die Bevölkerung weiter von den Institutionen entfernen. Der Ausweg einer Wiedervereinigung ist versperrt. Nur die Regierung in London kann ein Referendum ansetzen, lehnt das aber entschieden ab. Dessen Ausgang wäre derzeit unsicher. Sinn Féin kann warten: Nach 2030 wird es in jeder Altersklasse eine irisch-katholische Mehrheit geben. Je länger die Krise dauert, je später es zu einem Referendum kommt, desto sicherer wird das Votum zugunsten einer Vereinigung ausfallen.

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