Leises Gedenken

Die ukrainische Aktivistin Oleksandra Bienert über ihre Arbeit in Berlin und darüber, was der Tag der Befreiung für die Ukraine bedeutet

  • Patrick Volknant
  • Lesedauer: 6 Min.

Frau Bienert, den Tag der Befreiung verbinden viele Deutsche vor allem mit Russland. Was bedeutet der Gedenktag für die Ukrainerinnen und Ukrainer?

Es ist in den vergangenen Jahren alles etwas komplizierter geworden, aber natürlich bedeutet uns der Tag sehr viel. Meine beiden Großväter haben für die Rote Armee gekämpft, wie ca. sieben Millionen andere Menschen aus der Ukraine. Anders als in Russland wird der Feiertag in der Ukraine sowohl am 8. als Tag der Erinnerung und Versöhnung, als auch am 9. Mai als Siegestag begangen. Spätestens seit Annektion der Krim findet bei uns ein Umdenken statt. Inzwischen versucht man eher, die Tage leise zu begehen. Das werden wir auch in Berlin so tun.

Und wie genau?

Am 8. Mai wird es in der Markthalle Neun in Kreuzberg »Leuchtturm Ukraine«, eine Veranstaltung für Geflüchtete, Helfende und die Zivilgesellschaft geben, die ich mitorganisiere. Geplant sind Stände mit Angeboten der Zivilgesellschaft und der unterschiedlichen Ämter für Geflüchtete, Musik und ein Bühnenprogramm. Ein paar prominente Gäste wie die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey oder die deutsch-ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja werden kommen. Es soll auch darum gehen, welche historische Verantwortung Deutschland gegenüber der Ukraine trägt.

In Deutschland wird gerade eher über Waffenlieferungen diskutiert. Für Furore sorgte zuletzt ein öffentlicher Brief, unterzeichnet von einigen Prominenten.

Ich finde den Brief – ehrlich gesagt – entsetzlich. Ich kann nur empfehlen, einfach mal ein Buch über die ukrainische Geschichte in die Hand zu nehmen. Da gibt es auch Überblicke, die an einem Wochenende zu schaffen sind. Jeder, der die ukrainische Geschichte kennt, weiß, worum es da geht in diesem Kampf, nämlich um nichts weniger als unsere Existenz. Ein guter Beleg dafür ist der Artikel »Was Russland in Bezug auf die Ukraine tun sollte«, der im April von Ria Novosti, einer staatlichen Nachrichtenagentur in Russland, veröffentlicht wurde. Darin wird ganz klar die Auslöschung ukrainischer Identität, Sprache und Kultur gefordert, nichts anderes. Würden wir die Waffen niederlegen, dann würden wir vernichtet. Ich finde, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte der größte Freund der Ukraine sein müsste – und zwar auch, wenn die Bedrohung aus Russland kommt. Das beste Beispiel dafür ist doch der Holocaust-Überlebende Boris Romantschenko, der bei einem russischen Bombenangriff auf Charkiw am 18. März 2022 getötet wurde. Sein Tod ist jetzt auf unser aller Gewissen.

Viele Menschen in Deutschland befürchten die maximale Eskalation. Sie haben Angst davor, dass sich der russische Präsident in die Ecke gedrängt fühlt und zu den Atomwaffen greift.

Ich glaube, dass Menschen, die dieses Argument bringen, nicht verstehen, dass Putin überhaupt gar keine Anlässe braucht für irgendetwas. Die Option, Atomwaffen einzusetzen, hatte er schon immer. Es stellt sich eher die Frage, wie lange man noch warten soll. Die Ukraine bittet seit dem Kriegsbeginn 2014 darum, dass etwas unternommen wird. Deutschland spielt eine große Rolle und wir verstehen nicht, warum so lange mit den Waffenlieferungen gewartet wurde. Ich kann mich daran erinnern, wie mir einmal gesagt wurde: »Wenn wir ukrainische Geflüchtete auf unseren Straßen haben, dann werden wir etwas unternehmen.« Na bitteschön, jetzt sind sie da.

Der Krieg in der Ukraine hält mittlerweile seit mehr als zwei Monaten an. Wie viel Kraft kostet sie das?

Ich befinde mich gewissermaßen selbst im Krieg – nicht physisch, aber mental – und das ist anstrengend. Das Thema begleitet mich tagein, tagaus und an Ablenkung ist nicht zu denken. Ich glaube, dass alle, die sich seit Beginn an engagieren, sehr erschöpft sind – ganz besonders die Ukrainerinnen und Ukrainer. Wir tragen gleich mehrere Geschichten mit uns herum: Einerseits gehen wir normal arbeiten, andererseits machen wir uns Sorgen um unsere Familie und Freunde, die in der Ukraine geblieben sind. Einige von uns haben auch jemanden bei sich untergebracht. Das sind dann Menschen, die kein Deutsch können und immer wieder Hilfe bei Dingen wie Behördengängen oder Arztterminen brauchen.

Hier in Berlin scheint den Menschen ein bisschen die Puste auszugehen. Laut Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) hat die Spendenbereitschaft zuletzt stark abgenommen.

Ich glaube auch, dass die Berlinerinnen und Berliner etwas müde geworden sind oder teilweise einfach nicht mehr so viel übrig haben. Gerade was die Sachspenden angeht, kommt an manchen Orten nur noch ein Drittel von dem an, was am Anfang gespendet wurde. Aber bevor wir jetzt Alarm schlagen, würde ich erst noch abwarten, wie sich das weiter entwickelt.

Wie geht es den ukrainischen Geflüchteten und was könnte noch verbessert werden?

Am wichtigsten wäre es jetzt, das Angebot für ukrainischsprachige Sozial- und Rechtsberatung auszubauen. Wir haben es schon geschafft, dass es in den Stadtteilzentren viele Helferinnen und Helfer gibt, die Ukrainisch oder Russisch sprechen. Nur sind das eben keine spezialisierten Leute. Das gleiche gilt für psychologische Unterstützung. Ich habe von Menschen gehört, die vor einem Monat in Berlin angekommen sind und jetzt in sozialer Isolation leben. Sie wissen nicht, an wen sie sich wenden können, weil sie die Sprache nicht verstehen. Was es außerdem braucht, ist einfach unsere Zeit: Jede Stunde, die wir mit jemandem verbringen können, der geflüchtet ist, ist Gold wert.

Als Stadtteilkoordinatorin im Bezirk Marzahn-Hellersdorf vermitteln Sie zwischen der Verwaltung und der Zivilgesellschaft vor Ort. Warum diese Arbeit?

Es ist relativ einfach, sich einen Job im Zentrum zu suchen, wo es ohnehin schon viele Vereine und eine starke Zivilgesellschaft gibt. Ich finde es wichtig, auch die Menschen am Stadtrand zu unterstützten und mich dort gegen Ungleichheit einzusetzen. Dafür fahre ich jeden Tag eine Stunde her. In Marzahn-Hellersdorf gibt es viele Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben und viele alleinerziehende Mütter, die unterstützt werden müssen. Ich möchte hier meine Erfahrungen einbringen als Aktivistin. Das liegt auch in der Familie: Schon mein Großvater war Gewerkschafter und hat sich für andere Menschen engagiert. Ich habe das übernommen.

In Berlin, und nicht zuletzt in Marzahn-Hellersdorf, leben viele Ukrainer und Russen nebeneinander. Führt der Krieg hier zu Konflikten?

Zumindest in meiner Umgebung hat sich, was das angeht, nicht viel geändert. Es gab schon vorher viele Russinnen und Russen, mit denen ich für Menschenrechte auf die Straße gegangen bin und die sind jetzt nicht plötzlich anderer Meinung. Ganz im Gegenteil: Alle unterstützen, wo sie nur können. Ich denke, das ist auch das, was jetzt jeder anständige Russe machen sollte.

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