Spielend die Stadt umbauen

Neue Ansätze sollen Bürgerbeteiligung kooperativ statt kampfeslustig machen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 8 Min.
Keine Lösung, aber viel gelernt, so das Ergebnis des Rollenspiels zur Verkehrswende.
Keine Lösung, aber viel gelernt, so das Ergebnis des Rollenspiels zur Verkehrswende.

«Uns ist der Lärm gar nicht so unrecht, solange die Mietpreise stabil bleiben», sagt Rita. Sie ist skeptisch gegenüber den Plänen der Initiative Ostkreuz – Kiez für alle, die in einem großen Teil von Berlin-Friedrichshain den motorisierten Individualverkehr deutlich reduzieren will. Ganztags Tempo 30, auch auf den Hauptstraßen, die das Gebiet zwischen Frankfurter Allee, Warschauer Straße sowie den Bahnstrecken zum Ostkreuz südlich und östlich davon durchqueren. Der Durchgangsverkehr soll durch sogenannte Diagonalsperren und gegenläufige Einbahnstraßen herausgehalten werden. Halteverbote in den Straßen mit Tram, damit Radler nicht in die Gleise geraten und die Bahnen zügiger vorankommen, sowie autoreduzierte Zonen vor Schulen und an Plätzen sind weitere Forderungen des im April von der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg angenommenen Antrags.

Dann ist da noch eine Restaurantbetreiberin. «Ich frage mich, wie die Gäste zu mir kommen», wenn die Erreichbarkeit des Kiezes per Auto und die Parkmöglichkeiten eingeschränkt sein werden«, erklärt sie. Lotte wiederum ist leidenschaftliche Radfahrerin. Sie liefert auch für den Anbieter Gorillas Waren per Rad aus. »Ich komme zu spät, weil ich schon wieder einen Unfall mit dem Fahrrad hatte«, sagt sie bei der Vorstellungsrunde und fordert schnelle Verbesserungen für ihre Art, sich fortzubewegen. Insgesamt zwölf Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Interessengruppen sind anwesend, darunter ein Bezirkspolitiker, ein Verwaltungsmitarbeiter, die zuständige Senatorin, Mitglieder der Bürgerinitiative und leidenschaftliche Nutzerinnen und Nutzer des Autos – privat und beruflich.

Fast vier Stunden wird über das Für und Wider einzelner Maßnahmen gestritten und verhandelt. Doch eigentlich ist alles nur ein Spiel, genauer gesagt: ein »argumentatives Rollenspiel«, wie es in der Einladung heißt. Es sollen »möglichst verschiedene Meinungen zum Thema Kiezblocks gehört werden«, heißt es weiter. »Allerdings wird es im Spiel nicht die eigene Meinung sein, die vertreten wird.«

»Wir begreifen Nachhaltigkeit nicht nur im naturwissenschaftlich messbaren Sinne«, sagt Dirk von Schneidemesser über seine Arbeit am Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS), dem Veranstalter des Rollenspiels. »Wenn wir diktatorisch sagen: Ab jetzt gibt es kein Eis mehr, weil es dem Klima schadet, wird es nicht nachhaltig sein, weil die Menschen wie zu Prohibitionszeiten heimlich in der Badewanne Eis produzieren werden«, nennt er ein Beispiel, wie die allein schon wegen der Klimakrise nötige Transition nicht gut funktionieren wird.

Entwickelt haben das Spiel Gloria Gaviria und Susanne Bosch. Gaviria ist Architektin und Expertin für Urban Management, eine Disziplin, in der innovative Praktiken bei der Städtepolitik über die klassische Raum- und Stadtentwicklung hinaus entwickelt, gefördert und gestärkt werden. Bosch beschreibt sich als Künstlerin, Schnittstellen-Akteurin und Artistic Researcher. Als künstlerische Schnittstellen-Akteurin arbeite sie an Langzeitfragen, die sich mit Demokratiebegriffen und nachhaltiger Zukunft beschäftigen.

Auf einem großen Stadtplan des betroffenen Gebiets erläutern Dirk von Schneidemesser vom IASS und Inge Lechner von der Initiative Ostkreuz – Kiez für alle an dem Spielabend zunächst die prinzipiellen Möglichkeiten der Verkehrsberuhigung, wie eben Einbahnstraßen oder sogenannte Modalfilter, also Poller, die Autos, aber nicht Fahrrädern die Durchfahrt verwehren. Schließlich dürfen sich die Teilnehmenden die auf verschiedenen Kärtchen beschriebene Rolle aussuchen.

Da gibt es dann zum Beispiel den »Bauarbeiter aus Ahrensfelde«, der so charakterisiert wird: »Sie arbeiten bei einem Bauunternehmen, das überall in der Stadt Aufträge ausführt. Das bedeutet für Sie, alle paar Monate wechselt der Ort der Arbeit. Egal, wo die Baustelle in Berlin ist, Sie müssen jeden Tag mit dem Auto durch das Nadelöhr Ostkreuz.« Der Arbeitsbeginn ist frühmorgens um sechs Uhr, Feierabend ist nachmittags. Oder den Verwaltungsangestellten des Bezirks, der in der Abteilung Förderprogramme arbeitet. »Sie sehen für die Realisierung in dem Umfang schwarz, da Sie personell auf unbestimmte Zeit total unterbesetzt sind«, so die Rollencharakterisierung.

Die Argumente und Bedenken werden hin und her gewälzt, jeder Teilnehmende hat fünf Aktionskarten mit Aufträgen, die nach und nach abgearbeitet werden. Irgendwann greifen die Spielleiterinnen ein und fordern zur Reflexionsrunde auf. »Was ist das für ein Leitbild hier?«, fragt ein Teilnehmer. Der Kiezblock sei »wie eine Burg. Abgegrenzt. Das ist nur für uns«, so seine Gedanken. »Für ein Maßnahmenbündel ist ein Leitbild nötig, was man auch nach außen kommuniziert«, fordert er. Ein anderer entgegnet: »Das Bild einer Burg ist anzuwenden auf Autos. Aber für Fußgänger*innen und Radfahrende ist das ein Hafen.« Es kämen »ganz viele Argumente von extern, warum das hier nicht geht«.

Eine Mitspielerin, die die AG Verkehr und Vernunft aus dem benachbarten Samariterkiez vertritt, sagt: »Ich spreche für die Rolle im Verkehr, die total privilegiert ist, aber es fühlt sich gar nicht so an. Ich kann mir vorstellen, dass man in der Position bedrohliche Verlustängste hat.« Diese Gruppe setzt sich laut Beschreibung für »eine ›echte‹ Verkehrsberuhigung im Kiez ein, also Maßnahmen, die von der Mehrheit getragen werden«. Die real existierende Gruppe verglich die Aufstellung einer Diagonalsperre an einer Kreuzung in der Samariterstraße, die Autos das gerade Durchfahren verwehrt, mit dem Bau der Berliner Mauer. Denn sie erfolgte am 13. August 2019, dem Jahrestag des Mauerbaus.

Rita, die eine beschleunigte Gentrifizierung aufgrund der Verkehrsberuhigung fürchtet, spricht »von einem Gefühl, dass die Argumente zwar irgendwie gehört werden, aber nicht so darauf eingangen wird, um mir Sicherheit zu geben«.

Schließlich ergeht die Aufforderung, Gruppen zu bilden, um dort mögliche Lösungen auszuarbeiten. Verwaltung, Bezirks- und Landespolitik finden sich zu einer zusammen; die zweite Gruppe bilden die Anwohnerinnen und Anwohner, die weg vom Auto wollen, und schließlich als dritte Gruppe jene, die am Auto hängen – ob privat oder beruflich.

»Mir fällt immer mehr auf, wie komplex das Thema Verkehrswende ist. Es deprimiert mich, wenn ich sehe, dass es noch zehn Jahre dauern wird, bis wirklich etwas passiert«, sagt eine Mitspielerin in der anschließenden erneuten Reflexionsrunde. »Es war schwierig, das eigene Ziel der Initiative zu halten, den Durchgangsverkehr zu stoppen. Das hat sich durch die Kompromissfindung etwas verwaschen«, berichtet eine Teilnehmerin der Anwohnergruppe. Sie sagt aber auch: »Ich habe mich in der Bürger*innenrunde aufgehoben gefühlt.«

Was auch auch auffällt: »Als ich einen konstruktiven Beitrag gemacht habe, ist das gleich auf positive Resonanz gestoßen«, wie eine Teilnehmerin sagt. Ganz konkret wurde beispielsweise der Restaurantbetreiberin vom Bezirk in Aussicht gestellt, dass sie bei Wegfall der Parkplätze mehr Tische vor dem Lokal aufstellen und so mehr Umsatz generieren könnte. Das brachte ihre Opposition etwas ins Wanken. Dem Lieferanten wurden durch neue Lieferzonen bei Wegfall vieler allgemeiner Parkplätze am Straßenrand bessere Abstellmöglichkeiten für sein Fahrzeug in Aussicht gestellt.

»Ich habe ganz oft das Gefühl, dass für manche Sachen das Verständnis fehlt. Für die meisten Leute hat das Auto nämlich noch eine weitere Funktion: Es ist ein mobiler Lagerraum«, sagt ein Teilnehmer. Und stellt fest: »Nichts, was wir adressiert haben, löst dieses Problem.«

»Vom Ich zum Wir«, so beschreibt Künstlerin Susanne Bosch das Ziel der spielerischen Annäherung an eine umstrittene Frage. »Alles im Kopf ist vorhanden, um Lösungen zu finden, aber wir kommen nicht ins Handeln«, beschreibt sie die Situation in vielen Konfliktpunkten. »Die Verbindung geht nur über das Herz. Ich wage zu behaupten, dass in dem Spiel diese Feststellung gemacht wird«, so Bosch weiter. Und zitiert Friedrich Schiller mit dem Satz: »Es gibt nichts ernsthafteres als ein Spiel.«

Es ist bereits der zweite Durchlauf, den die beiden Erfinderinnen mit dem Spiel im Auftrag des IASS durchgeführt haben. »Die erste Veranstaltung am vorigen Samstag war konfrontativer angelegt«, sagt Boschs Mistreiterin Gloria Gaviria zu »nd«. Festgelegt worden ist das unter anderem über die Handlungsaufträge auf den Aktionskarten. »In dieser Runde haben die Leute positiver argumentiert, waren kompromissbereiter und konstruktiver.« Dabei habe aber auch die persönliche Neigung der Teilnehmenden hereingespielt. »Jeder ist ein bisschen anders und spielt diese Rollen ein bisschen anders«, so Gaviria.

»Wichtig sind die Ergebnisse, und hier hat sich eine große Kooperativität gezeigt. Das kann ein gutes Beispiel für eine Bürgerbeteiligung sein«, stellt Gloria Gaviria fest. »Es ist eine gute Methode, sich in eine andere Rolle versetzen zu müssen, weil diese Reflexion die Chance bietet, die anderen zu verstehen. Der Aha-Moment einer anderen Perspektive fehlt oft auf solchen Bürgerversammlungen.«

Die Aufteilung der Versammlung in eine zunächst konfrontativere Runde, an die eine konstruktive anschließt, ist gewollt. »Wenn Menschen merken, dass sie vielleicht zunächst zu kompromisslos waren, können sie die zweite Runde als zweite Chance nutzen, um doch noch zu einem Ergebnis zu kommen«, so Gaviria.

Erstmals haben die beiden dieses Spiel mit einem komplett fiktiven Szenario im Rahmen von Workshops beim Projekt Haus der Statistik am Alexanderplatz gespielt. Etwas näher an der Realität wurde schließlich am Holzmarkt in Friedrichshain gespielt, wo es schwere Konflikte um die geplante zweite Bauphase zwischen der Genossenschaft, dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft gab. »Wir testen, ob dieses Spiel als Instrument in Partizipationsprozessen funktionieren könnte«, sagt Gaviria.

»Gerade bei konflikthaften Transformationsprozessen müssen Menschen nachvollziehen können, woher bestimmte Haltungen kommen. Das kann den Konflikt entschärfen«, sagt Forscher Dirk von Schneidemesser. »Bei ganz vielen Konflikten finden die Menschen erst mal das besser, was sie kennen und haben. Selbst wenn eine Veränderung eine Verbesserung bringen könnte, wird sie abgelehnt«, so der Forscher weiter. »So sind Menschen nun einmal gestrickt.«

Im jahrelangen Streit um die Verkehrsberuhigung im Kiez rund um die Bergmannstraße in Kreuzberg, der berlinweit für Aufmerksamkeit sorgte, hatte das IASS Perspektivwerkstätten entwickelt, in die zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger eingeladen wurden, berichtet von Schneidemesser. »Das führte zu radikaleren transformativen Vorschlägen, als die Initiativen gefordert hatten.« Es gehe um die Frage, wie man bei solchen Prozessen Leute zusammenholt, die »wirklich einander zuhören und offen miteinander reden«.

Man müsse davon wegkommen, zu Dialogveranstaltungen offen einzuladen, sagt von Schneidemesser. »Dann kommen die Leute und haben das Gefühl, ganz viel zu verlieren oder ganz viel zu gewinnen. Sie schreien sich an, und die Zeitung berichtet: Der Kiez ist gespalten.«

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