- Kultur
- Beastie Boys
Unbewusster Englischunterricht
Für immer die Faust in der Luft: Thomas Meller erinnert sich an die Beastie Boys
»Goethe ist ein Klassiker wie die Beastie Boys«, schreibt Thomas Melle. In New York sei er wahrscheinlich nicht so bekannt wie die Beastie Boys, nur am Off-Broadway werde er hin und wieder gekürzt gegeben. »Klassiker« sei ein seltsamer Status, meint er. Nicht nur für Goethe, auch für die Beastie Boys. »Du kannst dich ewig wiederholen (bleibst Klassiker, wahrscheinlich) oder immer wieder was Neues versuchen (bleibst es auch, wahrscheinlich, macht nur mehr Spaß und ist besser und spannender für alle).« Melle rückt in seinem KiWi-Musikbibliothek-Band die Welt zurecht. Und hebt die Reihe damit auf ein neues Niveau.
Für seinen autobiografischen Roman »Die Welt im Rücken« erntete Thomas Melle viel Lob von der Fachpresse und auch das Lesepublikum mochte sein Buch. Das ist kein Wunder, denn Melles plastische Beschäftigung mit seinem bipolaren Syndrom, ist meisterhaft. Und auch in diesem Buch spielte die Popkultur eine wichtige Rolle. Insofern ist es für die KiWi-Musikbibliothek ein Coup, dass Melle einen Band über sein Leben und die Beastie Boys verfasst hat.
Melle spielt mit verschiedenen Ebenen. Eine davon ist das Fan-Shirt. Das Beastie-Boys-T-Shirt, das er 1996 in Austin/Texas gekauft hat. Jetzt kann er es nicht mehr finden. Immer wieder unterbricht der Gedanke daran den Gedankenstrom. Dieser Gedankenstrom fließt zwar halbwegs chronologisch, wird aber frei assoziativ gelenkt. Biografische Gedanken vermischen sich mit allgemeinen Überlegungen und dem Wissen des Autors über die Beastie Boys. Besser als jeder bisherige Band der Reihe, zeigt Thomas Melle, wie eng Pop und Leben miteinander verbunden sind.
Das Buch beginnt mit einer Flucht. Der jugendliche Thomas Melle haut samstagnachts aus dem Internat ab, um im Club zum Beastie-Boys-Track »Sure Shot« zu tanzen. Er wird natürlich erwischt. Melle versucht gar nicht erst, die Gedanken in eine romanhafte Eindeutigkeit zu packen. Er verwischt die Erinnerungen, so wie Erinnerungen eben verwischt sind. Die Erinnerung will, dass der Track gleich gespielt wurde, als er den Club betrat. »In Wahrheit«, meint Melle, »wird es irgendwann gespielt worden sein. Es ist nur der einzige Song, an den ich mich erinnere an jenem Abend.«
Das Verwischen der Erinnerung und ihre nachträgliche Formung als Drama, Komödie oder Farce sind unterschwellig immer wieder Thema. Und immer auch die Schönheit des Moments. Der Moment der Freiheit, den er mit seiner Flucht dem Internatssystem abgerungen hat. Oder ein Moment während seines ersten Beastie-Boys-Konzerts bei der »Rheinkultur« 1991. An das Konzert könne er sich kaum erinnern. Nur eine Momentaufnahme seines Freundes Felix ist geblieben: »… gutes Bild, Schlagkraft und Momentum der Jugend: Wucht des Moments, rückblickend Momentaufnahme, für immer gespeichert: mit der Faust in der Luft«. Oder der Moment, als Melle sich als Austauschschüler in den USA der Polizei stellen muss, weil seine Party etwas aus dem Ruder gelaufen ist.
Pop als Soundtrack der Adoleszenz, aufgeladen mit sozialer Reibungsenergie, die sich im Tanzen entlädt. Aber Pop ist noch mehr. »Denn es geht hier auch um Bildung«, schreibt Melle und zieht eine gerade Linie vom »unbewussten Englischunterricht« durch die Beastie Boys, die Beatles und Falco direkt zu seinem Englischlehrer Graach, der auch in seinen Romanen als »Gratzky« auftaucht. Und ohne, dass es beim Lesen anstrengt, wird man als Leser*in gleichzeitig durch drei Raum- und Zeitebenen geführt, die immer durch die Musik der Beastie Boys zusammengehalten werden.
Der Erinnerungsraum krümmt sich. Und eine weitere Krümmung kommt durch die Fußnoten dazu. Keine wissenschaftlichen Anmerkungen oder Literaturverweise, sondern Erweiterungen des Denkraumes. Mal steht nichts hinter der Fußnote, mal ein Zitatverweis, mal ein Querverweis auf eine ganz andere Erinnerung.
Vor allem der Track »Sure Shot« und das Zitat »’Cause you cant, you won’t, and you don’t stop!« ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Es ist dem Autor zu einer Art Lebensmotto geworden. Es geht immer weiter. Und dann läuft Melle zu Johann-Peter-Hebel’scher Form auf, wenn er über seinen 11. September 2001 berichtet. Und dann löst sich die Band nach dem Tod ihres Gründungsmitglieds Adam Yauch 2012 auf. Aber: »Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und die Bäume machen weiter« zitiert er Rolf Dieter Brinkmann. Es geht immer weiter. And you don’t stop. Aber das T‑Shirt ist am Ende trotzdem nicht da. Es ist eine anwesende Abwesenheit. Eine Erinnerung.
Thomas Melle: Über Beastie Boys, die beste Band der Welt, über frühe Konzerte und späte Versäumnisse. Kiepenheuer & Witsch, 96 S., geb., 10€
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.