Lennard Kämna siegt am Ätna

Der Ausreißerkönig des Frühjahrs gewinnt die 4. Etappe der Italien-Rundfart

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Sieg mit Etikette: Lennard Kämna (v.) gewann die Etappe, Juan Pedro López fuhr ins Rosa Trikot.
Sieg mit Etikette: Lennard Kämna (v.) gewann die Etappe, Juan Pedro López fuhr ins Rosa Trikot.

Die Faust war in die Luft gestreckt, der Oberkörper aufgerichtet. Zuvor hatte Lennard Kämna noch beim Blick zurück gesehen, dass sein Mitausreißer Juan Pedro López ein paar Meter zurückblieb. Sein Sieg am Ätna, dem höchsten aktiven Vulkan Europas, nach 172 Kilometern Fahrt, 162 davon in der Fluchtgruppe, war perfekt. Und Kämna konnte nach dieser vierten Etappe des Giro d’Italia nicht mehr aufhören zu strahlen. »Ich bin so glücklich, schon jetzt den Etappensieg in der Tasche zu haben«, meinte er, noch überwältigt vom Geschehenen.

Der Norddeutsche erwischte am Dienstag einen perfekten Tag. Trotz aller Ambitionen seines Teams Bora auf das Gesamtklassement erhielt er den Freifahrtschein zum Ausreißen. Der 25-Jährige war Mitinitiator des Angriffs, aus dem sich nach etwa zehn Kilometern eine Gruppe von 13 Fahrern gebildet hatte. Sie harmonierten bei der Fahrt hin zum Vulkan und kamen mit ausreichend Vorsprung am Fuß des Berges an. Kämna verhielt sich in der Folgezeit sehr geschickt: Als einer der stärksten Fahrer blieb er bei der Gruppe, auch dann, als einige Konkurrenten die ersten Attacken setzten. »Ich wollte so lange wie möglich in der größten Gruppe unter den Ausreißern bleiben. Schon zehn Kilometer vor dem Ziel zu attackieren, schien mir wegen des starken Gegenwinds zu riskant, auch weil der Anstieg nicht so steil ist. López musste ich dann etwa einen Kilometer vor der Ziellinie einholen, bevor es flacher wurde. Ich bin sehr glücklich, dass das auch so klappte«, beschrieb er die entscheidenen Szenen der vierten Etappe der Italien-Rundfahrt.

Es war ein Rennen wie aus dem Radsport-Lehrbuch: Initiative stets in den richtigen Momenten, ruhiges Arbeiten über lange Strecken und auch ein gutes Gefühl für das eigene Kräftemanagment. Beim Sprint um den Etappensieg konnte sich Kämna auf die Etikette verlassen. Mitausreißer López gab sich mit dem Rosa Trikot des Gesamtführenden zufrieden, das ihm die Flucht brachte, und schien nicht die allerletzten Kräfte im Spurt zu mobilisieren. »Sagen wir, es war ein stilles Übereinkommen. Es war so schön zu sehen, wie glücklich er mit dem Wissen war, Rosa zu erobern. Jeder von uns war glücklich, auch für den anderen«, meinte Kämna.

Der Profi vom Team Bora setzt damit sein starkes Frühjahr fort. Bereits bei der Andalusien-Rundfahrt und der Tour of the Alps konnte er eine Bergetappe gewinnen. Stets nach demselben Muster: Kämna war in der Fluchtgruppe des Tages und rang dort am Ende die Rivalen nieder. In Zukunft dürfte er es weniger leicht haben. Ausreißerkollegen werden stärker darauf achten, dass er nicht mit von der Partie ist. Oder sie werden sich Dinge ausdenken, um ihn zu zermürben.

Statt sich um die Zukunft zu sorgen, gilt für Kämna allerdings, die Gegenwart zu feiern. Was aktuell nach einer Bilderbuchentwicklung ausschaut, stellte sich vor genau einem Jahr noch ganz anders dar. Im März 2021 konnte Kämna bei der kleinen Algarve-Rundfahrt in Portugal nicht mit den Besten mithalten, weder in den Bergen noch im Zeitfahren. Er brach seine Saison ab und nahm eine Auszeit. Er war ausgebrannt, gab er später zu, hatte nicht die mentale Kraft, mit Rückschlägen im Sport umzugehen. »Sobald es Schwierigkeiten im Sport gab, hatte ich Probleme, mir Befriedigung abseits des Sports zu holen. Ich habe es verpasst, mich für andere Dinge zu öffnen, andere Interessen zu entwickeln«, bilanzierte er Ende des vergangenen Jahres.

In seiner Auszeit öffnete sich Kämna anderen Dingen. Er machte seinen Segelschein, verbrachte mehr Zeit mit Freunden und Familie. Das hat ihn offensichtlich stabilisiert, auch für das, was ihm eigentlich den meisten Spaß macht. »Ich habe eine große Leidenschaft für den Radsport. Ich liebe es, auf dem Rad zu sein«, sagte er »nd« im Frühjahr. Nur waren die Ansprüche, die er selbst an sich stellte, offenbar so hoch, dass er in eine Abwärtsspirale geriet, sobald die Dinge nicht mehr so gut liefen. Bereits bei seinem früheren Team Sunweb hatte Kämna eine lange Wettkampfpause eingelegt, weil die Freude an dem, was er eigentlich mag, im Strudel von Selbstzweifeln völlig abhandengekommen war.

Dass Kämna dabei nicht unterging, dass er sich auch über die Strukturen seiner jeweiligen Teams hinaus professionelle Hilfe bei Sportpsychologen holte, zeichnet ihn ebenso aus. Jetzt ist die Freude wieder da. Und mit ihr die Angriffslust bei jedem Rennen. Jetzt bleibt die Frage, wann der nächste Schritt erfolgt. Denn eigentlich ist sein Potenzial zu groß, um auf Dauer nur in Fluchtgruppen um Siege mitzufahren. Das Fahren auf das Klassement ist allerdings eine oft frustrierende Angelegenheit. Sie besteht vor allem darin, Fehler zu vermeiden und sich lange möglichst unsichtbar zu machen – genau das Gegenteil von dem also, was der gut sichtbare Ausreißerkönig mit den auf einen Tag begrenzten Zielen gerade unternimmt. Doch das ist das Morgen. Jetzt gilt es erst einmal, den Moment zu genießen.

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