- Politik
- Kolumbien
Humanitäre Mission mitten ins Kriegsgebiet
Afrogemeinden am kolumbianischen Pazifik organisieren sich gegen Kokaanbau und illegalen Bergbau
Der Morgen in Buenaventura ist wolkenverhangen und es liegt ein Nieselschleier über der Stadt. Das ist nicht selten in einer der regenreichsten Regionen der Welt am kolumbianischen Pazifik. Die hohe Luftfeuchte kratzt an der Substanz des Betons der Häuser und lässt Schimmelflecken über die Wände kriechen. Irgendwie riecht es überall modrig und die Handtücher trocknen eigentlich nie so richtig. Der zentrale Platz an der Bucht wird seit ein paar Monaten renoviert, Bänke wurden installiert und einige Cafés eröffnet, deren Preise sich die meisten Einwohner*innen der bevölkerungsreichsten Stadt am Pazifik wohl nie leisten werden können.
In Buenaventura, im Department Valle del Cauca, lebt eine halbe Million Menschen, 98 Prozent sind Afrokolumbianer*innen. Zur Stadt gehört auch der wichtigste Hafen Kolumbiens. 60 Prozent des kolumbianischen Außenhandels werden hier abgewickelt. Eigentlich müssten die Einnahmen für die Stadtverwaltung sprudeln und die Menschen in Wohlstand leben. Doch Korruption und die Privatisierung des Hafens im Jahr 1991 haben die Stadt in eine einzige Misere verwandelt. Obwohl laut Statistiken das Wirtschaftswachstum hoch ist, leben 80 Prozent der Bevölkerung in Armut und sogar über 40 Prozent in extremer Armut. Die Arbeitslosenzahlen liegen bei fast 70 Prozent und damit um ein Vielfaches höher als im Rest des Landes.
Seit Jahrzehnten vollzieht sich in der Stadt mit einem der höchsten Gewaltindizes der Welt eine humanitäre Tragödie, die von systematischen Menschenrechtsverletzungen gegenüber der überwiegend afrokolumbianischen Bevölkerung unter Beteiligung des Staates gekennzeichnet ist. Die überbordende Gewalt liegt unter anderem an der strategischen Lage des Hafens. Bewaffnete Akteure kontrollieren gewaltsam das Gebiet, um Drogen und Waffen exportieren und um Waren schmuggeln zu können. Gleichzeitig wird die Bevölkerung aufgrund der Hafenausbauprojekte von ihren Territorien vertrieben oder man lässt sie verschwinden. Es fällt schwer, sich mit einem Lächeln vor den Lettern »I Love Buenaventura« ablichten zu lassen. Zum Glück sind die Buchstaben so aufgestellt, dass im Hintergrund das Meer zu sehen ist.
Zuletzt mussten Anfang des Jahres 500 Menschen aus dem Dorf Bajo Calima fliehen, weil sich Paramilitärs und ELN-Guerrilla Auseinandersetzungen mitten im Dorf geliefert hatten. Bajo Calima ist ein ländlicher Vorort, keine halbe Bootsstunde über den Fluss vom Containerhafen entfernt. Garantien für eine geordnete Rückkehr gibt es nicht. Nicht zuletzt deswegen versucht der Zusammenschluss afrokolumbianischer Gemeinden (Proceso de Comunidades Negras – PCN), den kollektiven Widerstand zu organisieren und die humanitäre Katastrophe international sichtbar zu machen. Dieses Mal geht es zum Yurumanguí-Fluss, um dem Ziel eines humanitären Abkommens mit den bewaffneten Akteuren Nachdruck zu verleihen.
Neben der Menschenrechtskommission sind auch Vertreter des Geflüchtetenbüros und des Büros für humanitäre Angelegenheiten der Vereinten Nationen anwesend. Auch die staatliche Ombudsstelle (Defensoría del Pueblo) und die Aufsicht staatlicher Behörden haben ihre Vertreter geschickt. Ohne ihre markierten Boote wäre eine Fahrt ins Konfliktgebiet wohl kaum möglich. Sie steigen in eigene Boote, getrennt von den sozialen Aktivist*innen mit ihren Transparenten, Fahnen, Musikinstrumenten, Zelten und Matratzen. Straßenhändler am Steg lesen den Reisenden an den Augen ab, was ihnen auf ihrer Reise fehlen wird. Sonnenbrillen, Kaugummis, Zigaretten, aber vor allem wasserdichte Hüllen für die Handys und riesige schwarze Plastiksäcke, die das Gepäck gegen den Regen schützen. Manche setzen auf Flip-Flops und kurze Hosen, andere auf Gummistiefel und Regenkleidung. Am Ende der Fahrt werden ohnehin alle nass sein, egal ob vom Regen oder von der hohen Luftfeuchtigkeit.
Vom Tourismusableger auf Pontons sind ein riesiges Containerschiff und die gigantischen Hafenkräne im Nebelschleier zu sehen. Die Boote liefern sich ein Wettrennen aus der breiten Hafenbucht in Richtung offenes Meer. Auf offenem Meer nehmen die Wellen sichtlich zu und der Motor röhrt in den Momenten, wenn die Schiffsschraube in der Luft hängt. Es dauert eine ganze Weile, bevor die Flussmündung des Yurumanguí zu sehen ist. Sie ist mehrere hundert Meter breit, aber an manchen Stellen nicht mal mannstief. Wer hier bei Ebbe und Flut ein Boot steuert, muss wissen, was er tut. Die ruhigen Gesichtszüge des Steuermanns lassen erahnen, dass er genügend Routine besitzt.
In den windgeschützten Buchten hinter der Mündung stehen Pfahlbauten aus Holz, die Ebbe und Flut trotzen. Als die Ersten ihre Handys zücken, pfeift sie der Steuermann zurück und macht mit einer Handbewegung klar, dass das keine gute Idee ist. Fotos seien aus Sicherheitsgründen am Fluss verboten. Kurz darauf wird klar, dass der Mann nicht scherzt. Am Ufer vor dem ersten Dorf hängt ein großflächiges Plakat: Über zwei Fotos von Personen mit Waffen und Militäruniformen steht »FARC-EP Frente Jaime Martínez. 57 años de lucha«. Jetzt hat auch der Letzte verstanden: Wir befinden uns mitten im Kriegsgebiet. Hier hat die Farc-Dissidenz das Sagen, die sich 2016 gegen das Friedensabkommen mit der Regierung ausgesprochen hat und mittlerweile wieder in weiten Landesteilen aktiv ist.
Der Fluss wird schmaler und die Regenwälder werden dichter. Nur an manchen Stellen ist der grüne Teppich von Kochbananenplantagen, Zuckerrohr- oder Maisfeldern durchbrochen. Die schweren Wolken hängen über den steilen Felswänden, die aus dem Wasser ragen. Und die Transparente der FARC-EP-Dissidenz hängen vor jedem Dorf, an dem das Boot vorbeizieht. Blicke werden getauscht, ab und an nickt man sich zu, aber Freude über die Gäste sieht anders aus. Nach sieben Stunden Fahrt eröffnet sich in einer Flusskurve der Blick auf zahlreiche Holzhäuser und eine Kirche am oberen Hang. San Antonio de Yurumanguí ist erreicht, der größte Ort am Fluss mit circa 3800 Einwohner*innen.
Flink wird das Gepäck am Anleger nach oben gereicht und ins Dorf geschafft. Auf den ersten Blick sieht es beschaulich aus. Menschen plaudern rauchend auf die Holzbalkons gelehnt, Blumentöpfe zieren die vom Regen gezeichneten Holzplanken der Häuser, es riecht nach Koriander und Rosmarin. Der Blick auf den Fluss und den Regenwald ist atemberaubend. Auf einem Plakat am kommunitären Kulturhaus sind die Regeln für bewaffnete Akteure angeschlagen: Im Dorf seien keine Waffen erlaubt und die Bewohner*innen seien als Zivile zu respektieren. Eine Frau ruft Namen von einer Liste auf und teilt den Menschen ihre Unterbringung in Privathäusern zu. Übernachtet wird auf Matratzen mit Moskitonetzen. Das ist mehr, als die meisten Gäste erwartet hatten. Die Gemeinde ist bestens organisiert und hat sich minutiös auf den Besuch vorbereitet.
Hier wird alles kollektiv organisiert. Seit 1998 ist der Gemeinderat am Yurumanguí offiziell vom Staat als Selbstverwaltung anerkannt. Das kollektive Territorium umfasst insgesamt 54 000 Hektar und kann nicht privat veräußert werden. Im Zuge der verfassunggebenden Versammlung im Jahr 1991 setzten die Afrogemeinden durch, dass sie als Nachfahren afrikanischer Sklav*innen einen Rechtsanspruch auf das Land ihrer Ahnen haben. Verschleppte Sklav*innen aus Afrika hatten sich vor ihren Peiniger*innen versteckt und in schwer zugängliche Regionen in Sicherheit gebracht. Die Berge und Flüsse hinter der westlichen Andenkordillere, umgeben von riesigen Mangrovenwäldern, boten ein willkommenes Versteck.
Ein Jahr nach der Verfassung von 1991 hatten sich die Afrogemeinden der 13 Dörfer zur »Gemeinschaft Vereinigter Schwarzer des Yurumanguí-Flusses« zusammengeschlossen, um ihr Territorium zu schützen. Denn die Goldvorkommen, die Edelhölzer und die Biodiversität in der tropischen Pazifikregion wecken bei legalen und illegalen Akteuren Begehrlichkeiten. »Wir wollen hier keine Bergbauunternehmen, die mit Maschinen und Chemikalien unser Land zerstören«, sagt Marcellino auf der Versammlung. »Wir haben hier schon immer Gold geschürft, aber auf traditionelle Art und Weise, ohne Einsatz von Chemie.«
Die Afrogemeinde in Yurumanguí hat von anderen Regionen gelernt, dass Bergbau in großem Stil kaum Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung schafft und ihre Lebensgrundlagen zerstört. Denn neben dem traditionellen Goldschürfen lebt man in Yurumanguí vom Anbau von Süßkartoffeln, Mais, Zuckerrohr und Reis sowie von Wildfrüchten, die der tropische Regenwald hergibt. Und vor allem vom Fischfang und der Jagd im Wald. Die nachhaltige Holzwirtschaft ist eine zusätzliche Einnahmequelle. Aussaat und Ernte auf den Feldern werden gemeinschaftlich von den Familien organisiert. Ähnlich wie bei den Indígenas pflegen die Anwohner*innen eine Form des »treque« – einen traditionellen Tauschhandel von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern, je nachdem, was jeder zur Verfügung hat.
Dass diese Praktiken trotz Bedrohung, Zwangsrekrutierung und Vertreibung weiter Bestand haben, ist bemerkenswert. Ende der 1980er übernahm die FARC die Territorialkontrolle. Es dauerte zehn Jahre, bis die ersten Paramilitärs in der Region auftauchten. Die Folge waren schwere Gefechte und massive Vertreibungswellen. Noch heute spukt das Horrordatum 29. April 2001 in den Köpfen der Gemeinde, als im Dorf El Firme sieben Personen von Paramilitärs massakriert wurden. Laut der Gemeinde mussten damals 2000 Personen aus der Flussregion fliehen. Die Flüsse sind strategisch wichtig für den Drogenhandel und daher schwer umkämpft, weil sie Transportwege zum Pazifik und Richtung Panama und Nordamerika bieten.
Die Versammlung wird abrupt unterbrochen. Es treten drei Männer in Militäruniform und Gummistiefeln in die Mitte des Stuhlkreises, ihre Gewehre geschultert. Zwei schauen verschüchtert auf den Boden, während der mittlere eher stammelnd ein paar Worte an die Versammelten richtet. »Wir sind Mitglieder der FARC-EP, Mobile Kolonne Jaime Martínez«, sagt er mit tiefer Stimme. Man habe beobachtet, dass Handyfotos vom Dorf und vom Fluss gemacht würden, obwohl dies strengstens verboten sei. An diese Regel hätten sich die Gäste aus Sicherheitsgründen zu halten, sonst würden die Geräte konfisziert. Man akzeptiere das Treffen, solange sich alle an die Regeln hielten. Keine drei Minuten später sind sie wieder verschwunden und die Versammlung nimmt ihren Lauf, wohingegen einige der Gäste sichtlich irritiert scheinen. Die Notwendigkeit eines humanitären Abkommens, das die Gemeinde von allen bewaffneten Akteuren fordert, konnte kaum klarer zum Ausdruck gebracht werden.
Die Gemeinde ist an die Präsenz bewaffneter Akteure gewöhnt, auch wenn sie sich weiterhin im Widerstand befindet und geschlossen dafür kämpft, aus dem Konflikt herausgehalten zu werden. Das ist schier unmöglich, denn die jungen Rekruten stammen teilweise aus den eigenen Familien. »Manche junge Leute verlieren manchmal die Orientierung und ihre kulturelle Herkunft aus dem Blick«, meint ein Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand. Gleichwohl wird das kulturelle Erbe hochgehalten. Bei Viche, dem am Pazifik typischen fermentierten Schnaps aus Zuckerrohr, und zur Musik der Marimba, Guasá und Bombo wird ausgelassen getanzt und im Chor gesungen. Jugendliche in traditioneller Kleidung geben die schnellen Tanzschritte vor, die trotz des prasselnden Regens selbst Geübte ins Schwitzen bringen. Kultur als Widerstand.
Mario Angulo Sancelemente, Sprecher des PCN, appelliert an die Vertreter der Vereinten Nationen, ihre Beobachter nicht aus Buenaventura zurückzuholen. »Das Friedensabkommen zwischen Regierung und FARC-EP wird von staatlicher Seite nicht umgesetzt und die Schwarzen Gemeinschaften geraten mehr denn je zwischen die Fronten. Wenn sich die internationale Gemeinschaft zurückzieht, sind wir vollkommen allein.« Das Ziel der Bewohner*innen von Yurumanguí ist klar. Keiner hier will in den Elendsquartieren der Stadt enden. Berichte über die Vernachlässigung der Region durch den Staat und die Folgen des Krieges werden immer wieder von Sprechchören unterbrochen: »Das Territorium verkauft man nicht, man liebt und verteidigt es.« Doch die Antwort bleibt vage. Man werde die Lage im Hauptstadtbüro vortragen und auf die Notwendigkeit der humanitären Begleitung der Region hinweisen, heißt es. Hinter vorgehaltener Hand wird die Unzufriedenheit über die Entscheidungen der Zentrale geäußert. »Seit Jahren wird das Personal im Büro in Buenaventura zurückgeschraubt und wir sind aufgrund der prekären Situation vollkommen überfordert«, berichtet eine UN-Mitarbeiterin. Konkrete Zusagen für die Gemeinden? Fehlanzeige.
Ein paar Tage später, die Gäste sind längst abgereist, gibt die Gemeinde von San Antonio de Yurumanguí bekannt, dass Abencio Caicedo Caicedo und Edinson Valencia García verschwunden sind. Beide sind Mitglieder des Selbstverwaltungsrates von Yurumanguí und aktiv im PCN, bekannt für ihren Einsatz gegen den Kokaanbau und illegalen Bergbau. Die Internationale Menschenrechtskommission hat den kolumbianischen Staat aufgefordert, die Suche nach den beiden zu intensivieren. Doch bis heute gelten sie weiterhin als vermisst. Ein hoher Preis für eine humanitäre Mission zur Unterstützung der Afro-Gemeinden in der Region um Buenaventura.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.