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Integration ohne Assimilation
Berliner Grünen-Fraktion beschäftigt sich auf Klausur mit Geflüchteten sowie Verkehrswende
Der Einstieg in die Klausur der Abgeordnetenhausfraktion der Grünen im Tagungshotel »Landgut Stober« im brandenburgischen Nauen ist ungewohnt kritisch. »Die Menschen, die schon gut unterwegs sind, sind schon ein bisschen grummelig mit euch. Ihr müsst diesen Menschen auch eine Heimat bieten«, sagt Katja Diehl am Samstag, dem ersten Klausurtag. Es geht um die Verkehrswende, und Mobilitätsexpertin Diehl, die im Februar unter dem Titel »Autokorrektur« einen Sachbuch-Bestseller veröffentlichte, will der Partei Dampf machen. »Wir leben in einer Auto-Kratie in Berlin, ich will aber ein lebenswertes Berlin erzeugen«, sagt sie. Zu Diehls Kritik passt das, was Grünen-Mobilitätsexpertin Oda Hassepaß berichtet: »Ich habe im Wahlkampf immer gehört: Ihr macht das Richtige nicht schnell genug.«
»Beim Radverkehr sind wir, glaube ich, am Weitesten«, sagt Stefan Ziller, Fraktionsmitglied mit Wahlkreis in Marzahn-Hellersdorf. Aber, so räumt er ein: »Wir haben bisher kein Konzept in Berlin, wie man die Rushhour hinkriegt, weil die S‑Bahnen schon voll sind.« Co-Fraktionschef Werner Graf verweist unter dem Stichwort schnelle Sichtbarkeit von Fortschritten auf die baldige Aufnahme eines Rufbusverkehrs in der Hauptstadt im Bereich vom Ostkreuz bis zur Stadtgrenze, im Norden und Süden begrenzt von den Trassen der S5 Richtung Strausberg und der S3 nach Erkner. Die Fläche, auf der dieser Dienst angeboten wird, müsse »schnell verzweifacht, verdreifacht« werden, fordert Graf. Noch im aktuellen Doppelhaushalt 2022/2023 soll das geschehen. Man müsse für Fortschritte in der Fläche »den Schatz der acht Stadträt*innen nutzen«, so der Fraktionschef. Nur in vier Bezirken sind die Grünen nicht für das Thema Verkehr zuständig. Es dürften bei der Umwidmung von Straßenraum nicht nur Schilder aufgestellt werden, es müsse auch die Entsiegelung vorangebracht werden, sagt Graf.
Im Anschluss an die Debatte beschließt die Fraktion einstimmig ein sechsseitiges Strategiepapier. »Die Mobilitätswende ist nötiger denn je! Für mehr Klimaschutz, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit« lautet der Titel. Dass ein schneller Ausstieg aus fossilen Energiequellen dringend nötig sei, wird nun zusätzlich auch mit der Situation des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine begründet. Der Umstieg sei angesichts explodierender Energiepreise »auch sozialpolitisch geboten«, heißt es weiter. Schnell müssten zudem die Jahresabos für den Nahverkehr attraktiver gemacht werden. »Vielleicht indem am Wochenende der Tarifbereich C mit dabei ist, damit man an die Seen kann«, nennt Graf ein Beispiel.
Gleich elf Seiten umfasst das Beschlusspapier, in dem ein Masterplan »Ankommen & Teilhaben« für Berlin gefordert wird. Es geht um den Umgang nicht nur mit Geflüchteten aus der Ukraine. Oleksandra Bienert von der Berliner Allianz ukrainischer Organisationen berichtet in einem emotionalen Beitrag, dass sie kurz zuvor noch angesichts der Lage in ihrem Herkunftsland geweint habe. Sie will, dass nicht von einer Ukraine-Krise oder einem Ukraine-Krieg, sondern zumindest von »Krieg in der Ukraine« gesprochen wird.
Berlin ist das Ziel vieler Geflüchteter – 54 000 haben sich hier registriert, an die 100 000 sollen sich in der Stadt aufhalten. »Wir sind am Ende, wir sind sehr müde«, höre sie immer wieder von Geflüchteten, viele wollten zurück, so Bienert. »Warum fahrt ihr alle nach Berlin«, habe sie immer wieder gefragt. »Weil Berlin die Stadt der Freiheit ist«, sei oft die Antwort gewesen. Viele Geflüchtete würden sich aus Angst vor einer Umverteilung in andere Bundesländer nicht in Berlin registrieren.
In ihrem Beschluss bekennen sich die Grünen allerdings zum Königsteiner Schlüssel, der die Umverteilung regelt. Gruppen mit besonderen Bedarfen, beispielsweise Menschen mit Behinderung, sollten jedoch nur dann umverteilt werden, wenn am Zielort adäquate Versorgungsstrukturen existierten.
»Wir brauchen einen neuen Ansatz, der Geflüchteten einen bestmöglichen Neuanfang in Berlin ermöglicht«, fordert Jian Omar, Sprecher für Migration, Partizipation und Flucht der Fraktion. Man solle den Umgang mit Geflüchteten »nicht mehr vorrangig als eine Frage der Sicherheit begreifen und nicht von einem Integrationsansatz angehen, in dem ein Assimilationsansatz mitschwingt«, so Omar weiter in der Aussprache.
»Ziel muss jetzt sein, alle weiteren Maßnahmen in einem Masterplan ›Ankommen und Teilhaben‹ zu bündeln und die Regelstrukturen zu stärken«, erklärt Co-Fraktionschefin Silke Gebel. »Indem wir beispielsweise die Anerkennung von Abschlüssen beschleunigen, Kindern und Jugendlichen beste Startchancen in unserem Bildungssystem geben und ukrainische Expertise im Gesundheitssektor einbinden, schaffen wir gemeinsam das Berlin von morgen«, so Gebel weiter.
Überraschend kontrovers wird es schließlich im dritten Block am Spätnachmittag, als die Fraktionschefs von SPD und Linke, Raed Saleh und Carsten Schatz, gemeinsam mit ihren Konterparts von den Grünen diskutieren. »Ich glaube, der Start war gut«, sagt Carsten Schatz über die laufende Legislaturperiode. Saleh spricht über die kulturelle Nähe der drei Koalitionspartner, die es so mit anderen Parteien nicht gebe. Gelobt wird von den Grünen, dass die SPD sich in puncto A100-Verlängerung an den Koalitionsvertrag halte, auch wenn nicht nur diese Position Ergebnis eines harten und langen Ringens war.
Doch mit dem Verlauf wird die SPD zunehmend Zielscheibe von Kritik. »Ich nehme die SPD als sehr führungsstark wahr. Ich würde mir wünschen, dass aus mehr Fachlichkeit mehr Dynamik entstehen kann«, kritisiert beispielsweise der Grünen-Abgeordnete Benedikt Lux den Führungsstil. Auch wird Unmut darüber kundgetan, dass Innensenatorin Iris Spranger (SPD) mitten in den Haushaltsverhandlungen per Zeitungsinterview Geld für eine zentrale Einbürgerungsbehörde fordert, obwohl sie bisher kein Konzept dafür vorgelegt hat.
Danach kehrt wieder Ruhe im »Landgut Stober« bei Nauen ein, viele Fraktionsmitglieder verfolgen am Abend den Eurovision Song Contest. Als nachts feststeht, dass die Ukraine gesiegt hat, bricht noch einmal Jubel aus.
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