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Chile bald in neuer Verfassung
Die neue Magna Charta ist fertig für das Plebiszit im September
Jubel und Applaus: In einer rekordverdächtigen Woche hat der chilenische Verfassungskonvent am 14. Mai die letzten Verfassungsartikel verabschiedet. Laura Palma ist glücklich und zugleich erschöpft: »Es war eine gigantische Aufgabe, die wir vor uns hatten«, meint die Mitarbeiterin der linken Konventsabgeordneten Loreto Vidal. Allein in der vergangenen Woche wurden mehrere Hundert Abstimmungen durchgeführt. Die Sitzungen dauerten teilweise über zwölf Stunden am Tag.
Das Ergebnis der Verfassung ist eine Stärkung des Sozialstaates, die Einführung sozialer Grundrechte auf Verfassungsebene, die Förderung der Regionen und Gemeinden gegenüber dem chilenischen Zentralstaat sowie die Anerkennung und Erteilung besonderer Grundrechte für die indigenen Völker des Landes.
Sofern bei der kommenden Abstimmung am 4. September die neue Verfassung angenommen wird, verwandelt sich Chile auch formal in einen plurinationalen Staat. Das Modell, das unter anderem aus Bolivien bekannt ist, anerkennt die indigenen Völker des Landes als eigene Nationen mit eigenen Rechten, die unter dem gleichen Staatsgebilde koexistieren.
Die Umsetzung der Plurinationalität in allen Verfassungsartikeln löste insbesondere in rechten Kreisen Widerstand aus. So sieht die neue Verfassung reservierte Sitze für Indigene in allen gewählten Volksvertretungen, wie Parlamente oder Gemeinderäte vor. Die genaue Anzahl soll je nach indigenem Bevölkerungsanteil im jeweiligen Wahldistrikt bestimmt werden.
Ebenfalls wurde das Recht der indigenen Völker auf ihre Ländereien, Gebiete und natürlichen Ressourcen im Entwurf der neuen Verfassung festgeschrieben. Die Indigenen sollen nicht nur ihre Ländereien zurückbekommen, sondern innerhalb ihrer Gemeinschaften und eines bestimmten Rahmens eigene Gesetze erlassen und Recht sprechen können.
»Damit öffnet der Verfassungskonvent den Weg zur Lösung lang andauernder Konflikte«, sagt die Mapuche und Abgeordnete für den Konvent, Rosa Catrileo. Der Konvent erkennt durch die Artikel die historischen Ansprüche der indigenen Völker an, die zum Großteil im 19. Jahrhundert vom chilenischem Staat erobert und aus ihren Ländereien vertrieben wurden.
Viele Forderungen der sozialen Bewegungen sind ebenfalls in der neuen Verfassung verankert. So wurden die sozialen Rechte auf eine eigene Wohnung, auf Abtreibung oder auf kostenlose Bildung bis zur Universitätsebene von der nötigen Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten angenommen. Bei vielen sozialen Rechten wurde zusätzlich festgelegt, dass nicht nur der Zugang gewährt werden soll, sondern der Staat auch eine dominante Rolle bei der Erfüllung der Rechte einnehmen soll.
Wasser und dessen Zugang wird als allgemeines Gut von der neuen Verfassung anerkannt. Damit endet die Privatisierung des Wassers. Ein chilenischer Sonderweg der derzeit zu einer Übernutzung des vorhandenen Wassers und einer ungleichen Verteilung zwischen Großgrundbesitzer*innen, kleinen Bäuerinnen und Bauern sowie der restlichen Bevölkerung führt.
Palma ist glücklich mit dem Ergebnis, doch sie merkt an: »Ich hätte mir mehr Beteiligungsmöglichkeiten für die Bevölkerung gewünscht, viele Menschen haben für Initiativen unterschrieben und wissen nicht, was daraus geworden ist.« Doch die Zeit spielte gegen den Konvent. Innerhalb von einem Jahr muss eine neue Verfassung geschrieben sein.
Eine Harmonisierungskommission muss nun bis zur gesetzlichen Frist, dem 5. Juli, einen endgültigen Entwurf fertig schreiben. Am 5. September stimmen die Chilen*innen schließlich darüber ab, ob sie die neue Verfassung derjenigen aus Zeiten der Militärdiktatur vorziehen.
Mit der neuen Verfassung wird die wirtschaftliche Elite verschiedenste Privilegien verlieren. Unter anderem deshalb wird das Konvent von rechter Seite deutlich angegriffen. So verbreiten Vertreter*innen rechter Parteien und Thinktanks derzeit offensichtliche Lügen über die Auswirkungen der neuen Verfassung auf die Gesellschaft. Der rechte Konventsabgeordnete Eduardo Cretton behauptete etwa fälschlicherweise, die reservierten Plätze für indigene Völker würden auch für Gerichte gelten. Täglich haben zudem derzeit rechte Meinungsmacher*innen prominente Plätze in den großen Medien.
Dadurch hat sich das Klima zu Ungunsten der neuen Verfassung verändert. So veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Cadem Anfang Mai eine Umfrage, nach der nur noch 35 Prozent der Bevölkerung für die neue Verfassung stimmen würden und 48 Prozent dagegen.
Dagegen wolle man alles setzen, Palma meint, man muss den Menschen möglichst einfach die Details der neuen Verfassung erklären. Sofern das gelingt, wird am Ende eine große Mehrheit für die neue Verfassung stimmen. Auch der seit März regierende linksreformistische Präsident, Gabriel Boric, sagte gegenüber Medien, er arbeite dafür, dass »der 4. September der Moment sein wird, in dem wir die Verfassung der 80er Jahre überwinden werden«.
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