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Was die Weißen wissen
Der Khan-Report: Der migrantische Jugendliche ist per se schlecht und gefährlich
Zahlen geistern mir seit einigen Tagen durch den Kopf. Der Täter von Buffalo, der am vergangenen Wochenende zehn Schwarze Menschen aus rassistischen Motiven ermordete, ist 18 Jahre alt. Der Gymnasiast aus Essen, der einen rechten Bombenanschlag auf eine Schule in Essen geplant haben soll, ist gerade einmal 16.
Während Nordrhein Westfalens Innenminister Herbert Reul von einem »dringenden Hilferuf eines verzweifelten jungen Mannes« spricht, frage ich mich immer noch, wie sich ein 16-Jähriger in Deutschland so bewaffnen konnte. Und abermals finden Debatten über psychische Erkrankungen statt, darüber, ob und wie psychosoziale Aspekte Radikalisierungsprozesse beeinflussen. Auffällig ist, wie all diese Debatten geführt werden. Wenn es sich um weiße Jugendliche handelt, die rechte Attentate planen oder gar vollziehen, oder um weiße Menschen, die in psychischen Krisen katastrophal agieren, dann werden diese Fälle eingehend betrachtet. Ihnen gegenüber stehen viel zu viele nicht-weiße Menschen, besonders männlich gelesene Jugendliche, die rassifiziert, und kriminalisiert werden und für die kleinsten »Vergehen« die volle Härte staatlicher und institutioneller Repressionen und Gewalt erfahren.
Eine Zäsur stellt nach wie vor der 11. September 2001 dar. Besonders für meine Familie. Auf einen Schlag wurden wir, mein Bruder, meine Cousinen und Cousins, zu erwachsenen und potenziellen Extremist*innen erklärt. Plötzlich änderte sich das Verhalten unseres Umfelds extrem. Und auch mein damals gerade mal 14-jähriger Bruder erlebte vermehrt Racial Profiling an Bahnhöfen und in der Innenstadt von Hamburg. Der liebe und ruhige Junge, der seiner alleinerziehenden Mutter beim Einkauf half, wurde immer häufiger in Supermärkten und Drogerien des Diebstahls bezichtigt und viel zu oft wurde die Polizei gerufen. Menschen, die ihn aufwachsen gesehen hatten, erteilten ihm nun Hausverbote in ihren Geschäften. Plötzlich sollte von ihm eine Gefahr ausgehen, die anscheinend nur weiße Menschen wahrnehmen konnten. In der Schule wurde er zwar verprügelt, aber die Klassenkonferenz wurde seinetwegen einberufen: Er habe diese Schläge provoziert.
Wer wie in einer weiß-dominierten Gesellschaft als Kind oder Jugendlicher wahrgenommen wird, entscheidet immer noch die weiß-dominierte Gesellschaft selbst. Sie haben die Machtinstrumente in der Hand. Auch 20 Jahre später hat sich anscheinend nicht viel verändert. Das Bild von aggressiven migrantischen Jugendlichen ist fest in der Gesellschaft verankert. Man spricht von »Problemschulen in Brennpunkten«, immer häufiger werden die strukturellen Gegebenheiten wie prekäre Lebensverhältnisse aufgrund von Diskriminierung, Rassismus, Klassismus usw. gar nicht mehr genannt. Der migrantische Jugendliche ist per se schlecht. Schlecht in der Schule. Kriminell. Neigt zu Gewalt (weil er es nicht anders kennt von zu Hause). Und wenn er Muslim ist, wird aus ihm ganz bestimmt ein Fundamentalist. Deshalb kann und darf man ihn anders behandeln als unsere autochthonen deutschen Jugendlichen. Deshalb kann ein Politiker wie Reul, bei einem 16-jährigen weißen deutschen Gymnasiasten von »Hilferuf« sprechen. Er spricht nur das aus, was die Mehrheit der Gesellschaft hören möchte.
Am 6. März 2021 starb der 19-jährige Qosay Khalaf, nachdem er in Polizeigewahrsam kollabiert war. Zuvor war er von Zivilpolizist*innen in einem Delmenhorster Park kontrolliert und gewaltsam festgenommen worden. Sein »Vergehen«? Sein Freund und er sollen im Park Marihuana geraucht haben. Auch Matiullah J. war gerade einmal 19 Jahre alt, als ihn die Polizei in Fulda 2018 erschoss. Aman Alizada starb 2019 bei einem Polizeieinsatz in einer Geflüchtetenunterkunft in Stade, auch er war 19 Jahre alt. Junge Männer, als Kinder und Jugendliche vor Krieg geflohen, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten. In Deutschland gebrandmarkt als Gefährder, Kriminelle und Täter. Kein Raum für Mitgefühl. Über ihr Schicksal wurde fremdbestimmt. Sie hatten keine Chance für einen Hilferuf.
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