»Die Fähigkeit, den Krieg zu spalten, ist uns völlig entglitten«

Der Philosoph und Soziologe Maurizio Lazzarato über Produktivität, Zerstörung und die Unerträglichkeit der Gegenwart

  • Henri Thurow
  • Lesedauer: 15 Min.

Maurizio Lazzarato, Ihr neues Buch heißt »Die Unerträglichkeit der Gegenwart, die Dringlichkeit der Revolution – Minderheiten und Klassen«. Es ist ein Buch über die Begriffe Revolution, Kampf und Klasse. Sie plädieren dafür, den Diskurs über Minderheiten, soziale oder politische »Unterschiede« umzuwandeln, indem man den Begriff der Klasse ausweitet. Denn die Klasse ist politisch, eine Minderheit nicht. Sie sprechen zum Beispiel von der Klasse der Frauen, der Klasse der Kolonisierten, um die politische Form dieser Kämpfe zu bezeichnen. Warum diese Rückbesinnung auf den Begriff der Klasse? Und wieso mehrere Klassen, mehrere Klassenkämpfe?

Seit der Krise von 2008 versuche ich, die Begriffe Krieg und Revolution wieder in die Debatte einzubringen. Für die Revolutionäre des 20. Jahrhunderts standen sie immer im Mittelpunkt, seit einiger Zeit neigen wir dazu, sie zu vergessen. Krieg oder Revolution ist die Alternative, die der Kapitalismus immer und immer wieder stellt, wie wir gerade sehen. Der Krieg in der Ukraine ist nicht der Krieg eines Autokraten gegen die Demokratie, sondern er ist Ausdruck der Auseinandersetzungen zwischen den Imperialismen, die am Ende des Akkumulationszyklus entstehen, der Anfang der 1970er Jahre mit den Bürgerkriegen in Südamerika begann. Die ersten neoliberalen Regierungen, Produkt der Chicagoer Schule, waren Militärregierungen! Am Ende des Wirtschaftszyklus finden wir wieder, womit er angehoben hat: Krieg zwischen Staaten und Kriege zwischen Klassen, »races« und Geschlechtern.

Interview


Maurizio Lazzarato, geboren 1955, ist Soziologe und Philosoph des Postoperaismus. Er lebt in Paris und arbeitet zu Themen wie immaterielle Arbeit, Zersplitterung der Lohnarbeiterschaft, Ontologie der Arbeit, kognitiver Kapitalismus und postsozialistische Bewegungen. In den 1990er und 2000er Jahren war er Redaktionsmitglied der Pariser Zeitschriften »Futur Antérieur«und »Multitudes«. Größere Bekanntheit erlangte er mit seinem Buch »Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben«, das 2012 auf Deutsch erschienen ist.

Krieg und Klassenkampf hängen zusammen. Wer nicht über Klassen spricht, spricht auch nicht über Krieg – und andersherum. Politisch ist das eine ohne das andere nicht zu verstehen. Daher verdrängt den Krieg, wer den Klassenkampf verdrängt. Der Krieg zwischen Staaten, die Klassen- und Geschlechterkriege und die »race wars« haben die Entwicklung des Kapitals immer begleitet – ausgehend von der ursprünglichen Akkumulation sind diese Kriege die Existenzbedingung des Kapitals. Die Bildung von Klassen – der Arbeiter, der Sklaven, der Kolonisierten und der Frauen – impliziert außerökonomische Gewalt, die die Herrschaft begründet. Und Gewalt, die sie erhält, indem sie die Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten stabilisiert und reproduziert. Es gibt kein Kapital ohne Klassen-, »Rassen«- und Geschlechterkriege und ohne einen Staat, der die Kraft und die Mittel hat, diese Kriege zu führen! Krieg und Kriege sind keine äußeren Realitäten, sondern konstitutiv für das Kapitalverhältnis, auch wenn wir das vergessen haben. Kapitalismus bedeutet Produktion und Krieg, Akkumulation und Klassenkämpfe. Daher dürfen wir den Begriff der Klasse nicht aufgeben – also zum Beispiel einfach vom »Prekariat« reden –, sondern müssen ihn umdenken.

Worin besteht der Unterschied zum marxistischen Konzept der Klasse?

Wie Frantz Fanon sagt, geht es nicht nur darum, den Begriff zu »dehnen«. Den Klassenbegriff umzudenken bedeutet, seine Homogenität zu untergraben, weil es eine Vielzahl von Klassen gibt, die selbst wieder aus Vielheiten oder Minderheiten bestehen. Die Arbeiterklasse enthält »rassische« und sexuelle Minderheiten, die Frauenklasse wiederum enthält reiche und arme, weiße, schwarze, indigene, heterosexuelle, lesbische Frauen und so weiter. Die Klassen sind in der Regel nicht homogen, da sie sich aus verschiedenen Gruppen zusammensetzen. Aufgrund dieser Vielfältigkeit ist das politische Subjekt nicht wie bei der Arbeiterklasse vorab gegeben, sondern ein »unvorhergesehenes« Subjekt in dem Sinne, dass es erfunden und konstruiert werden muss. Es geht der Aktion nicht voraus.

Die Identität einer Klasse, das, was sie ausmacht, ist daher historisch und vergänglich. Es ist etwas, das die Klasse überwinden will. Es ist ein Klassenverhältnis – und im Klassenkampf soll dieses Verhältnis abgeschafft werden. Marx hat die Arbeiterklasse dadurch definiert, dass sie im Lohnverhältnis steckt. Dieses Lohnverhältnis sollte aufgelöst werden, indem die Arbeiterklasse sich der Produktionsmittel bemächtigt. Heutzutage, so müssen wir zugeben, ist so ein Lohnverhältnis längst nicht mehr üblich, wenn es um die Verdammten dieser Erde geht. Mitnichten! Die wenigsten Revolutionen des 20. Jahrhunderts gingen von Leuten aus, die in einem Lohnverhältnis standen – weder die Revolutionen der Kolonisierten, noch die feministischen Kämpfe.

Aber auch die Klasse der Frauen oder der Kolonisierten, und das können wir von Marx lernen, will, wenn sie sich politisiert, ein Verhältnis auflösen – sie will ihre Unterwerfung auflösen. Das ist das Besondere am Klassenbegriff, und darum müssen wir ihn aufbewahren, dass er die politische Identität ganz historisch, ganz situationsbezogen auffasst, und sie nicht wieder verewigen will.

Ihnen erscheint auch die Definition des Kapitalismus als »Produktionsweise« nach Marx‘schen Kategorien zu begrenzt. Nicht nur, da sie sich lediglich auf das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital bezieht, also auf den Kampf der Arbeiterklasse, sondern auch, weil sie den Krieg ausblendet.

Nicht alle Machtverhältnisse im globalen Kapitalismus sind spezifisch kapitalistisch. Die kapitalistische Maschine ist ein Hybrid aus verschiedenen Machtverhältnissen, Produktionsweisen und Arbeitsmodalitäten. Dasselbe kann man von der Unterwerfung unter ein Machtverhältnis sagen: Die Unterwerfung der Frau ist ebenso wie die Unterwerfung als Sklave oder Kolonisierter nicht auf die Unterwerfung als Arbeiter reduzierbar. Ebenso wenig ihre Organisations- und Subjektivierungsweisen. Das haben die Revolutionäre zu lange nicht in Betracht gezogen, daher kam es zum Beispiel in den 1920er Jahren zwischen den Revolutionären aus Indochina und den Kommunisten der französischen kommunistischen Partei in Paris zu großen Missverständnissen, die ich in meinem Buch nachzeichne.

Marx glaubte, dass alle vorkapitalistischen Existenzen dazu bestimmt seien, sich unter der Wirkung des Kapitals aufzulösen, aber »race« und Geschlecht scheinen diese Vorhersage zu widerlegen. Diese Machtverhältnisse reproduzieren sich weiterhin, egal welchen Entwicklungsstand die Produktivkräfte erreicht haben. Und das Kapital kommt ganz hervorragend damit zurecht, bedient sich der Sklaverei wie des Faschismus.

Das Verhältnis von Kapital und Krieg betrifft den Staat, der den Krieg kanalisiert. Sie arbeiten aus, wie im Laufe des 20. Jahrhunderts aus dem industriellen Zentrum Europas und der kolonisierten Restwelt eine »interne Kolonisierung« wurde: Industrie gibt es nun auch in den ehemaligen Kolonien und Methoden, die aus den Kolonialkriegen und aus der kolonialen Ausbeutung stammen, auch im ehemaligen kapitalistischen Zentrum. Zentrum und Peripherie sind überall, könnte man sagen. Diese Entwicklung lässt sich nicht ohne das Ineinandergreifen von Kapital, Staat und Krieg begreifen. Sie sprechen also nicht mehr von »Kapital«, sondern von einer »janusköpfigen Maschine Kapital-Staat«. Warum ?

Weil das Kapital, im Gegensatz zu dem, was viele Marxisten glauben, untrennbar mit dem Staat und dem Krieg verbunden ist. Der Kapitalismus ist eine Maschine mit zwei Köpfen, Kapital und Staat, Wirtschaft und Politik, Produktion und Krieg, die seit der Entstehung des Weltmarkts zusammenwirken. Der Beschleuniger dieses Bündnisses zwischen Staat und Kapital war der Erste Weltkrieg. Er hat eine administrative, militärische und politische Bürokratie hervorgebracht, die sich in keiner Weise von einer kapitalistischen Organisation unterscheidet. Bürokraten und Kapitalisten, die unterschiedliche Funktionen innerhalb derselben politisch-ökonomischen Maschine einnehmen, bilden die Subjektivierung, die die Beziehung zwischen Eroberungskrieg und Produktion, Kolonisierung und Rechtsordnung, wissenschaftlicher Organisation der (abstrakten) Arbeit und Plünderung der menschlichen und nichtmenschlichen Natur herstellt und reguliert. Der Kapitalismus war immer politisch. Aber aus anderen Gründen, als Max Weber es annahm, also der bloßen Verflechtung von bürokratischen und kapitalistischen Strukturen. Der Kapitalismus war immer politisch, da man für das Verständnis seiner Konstitution nicht von der wirtschaftlichen Produktion ausgehen muss, sondern von der gewaltsamen Verteilung der Macht, die darüber entscheidet, wer befiehlt und wer gehorcht. Die gewaltsame Aneignung der Körper von Arbeitern, Frauen, Sklaven und Kolonisierten geht mit einer normativen Gesellschaft einher, in der sich der Verwaltungsstaat und der souveräne Staat in das Handeln des Kapitals einfügen. Politik, Staat, Militär und Verwaltungsbürokratie sind seit jeher ein konstitutiver Teil des Kapitalismus.

Kommen wir zu einem anderen Aspekt des Buches, zur normativen Gesellschaft, von der Sie gesprochen haben. Sie unterscheiden zwischen einem Kampf auf dem Gebiet der Normen, der Gouvernementalität und andererseits dem Kampf gegen die Normen. Ihrer Meinung nach geht der Kampf im ersten Fall aber nie über den Rahmen der Befriedung hinaus, den der Klassenfeind nach der Niederlage der Revolution eingerichtet hat, und spielt so mit dem Vergessen, der Verdrängung des Klassenkampfes und der Revolution.

Foucault zum Beispiel versuchte zwischen 1971 und 1975, die sozialen Beziehungen durch den Bürgerkrieg zu denken, auch wenn es sich dabei um den Bürgerkrieg vor der Kommune handelte. Er hat sich nie mit dem Krieg und den Bürgerkriegen des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt, die die Konstituierung einer neuen Funktionsweise der Maschine Staat-Kapital-Krieg markieren. Wie auch immer, sobald sich der Schwung der 68er erschöpft hat, gibt er den Bürgerkrieg auf. Mit der Biopolitik und Gouvernementalität verschwinden die Klassen, es gibt nur noch die Bevölkerung und die Individuen, denn der Gegenstand der Biopolitik ist die Kontrolle der Bevölkerung und der Individualisierung. Bei Marx war es genau umgekehrt, Marx suchte die Klassen innerhalb der Bevölkerung. Ich denke, wir sollten dieser Marx‘schen Idee treu bleiben, aber versuchen, die Klassen im Plural herauszuarbeiten. Foucault spielt der Illusion eines Friedens, eines gesellschaftlichen Friedens oder eines sozialen Paktes in die Hände, da die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten den Griff, die Eroberung, die Gewalt, durch die die Klassen konstituiert wurden, auslöschen und die Gewalt, die sie reproduziert, verschleiern.

Die Biopolitik ist Ausdruck einer Gesellschaft, in der die Sieger in der Lage waren, ihre Normen durchzusetzen. Aber »die Norm ist das zusammenfassende Zeichen der Eroberung«, also die institutionelle Bestätigung des Sieges einer Klasse über eine andere. Die Biopolitik löscht diese Beziehung zwischen Eroberung und Norm aus und macht letztere nicht zur Konsolidierung einer Eroberung, sondern zu einer Macht, die zur Selbstinstitution fähig ist: Die Norm gründet sich auf sich selbst, anstatt sich auf einen politischen Sieg zu gründen, sie ist eine immanente Macht, die nichts anderes als ihre eigene Entwicklung benötigt. Die Leugnung der »Einnahme« als Akt der Schaffung und Unterwerfung von Klassen und die Verdrängung der Gewalt, die für die Reproduktion dieses historischen Gründungsereignisses notwendig ist, verhindert nicht nur, Macht und Kapitalismus zu verstehen, sondern behindert auch den subjektiven Bruch, die Konstitution des aufständischen Subjekts und die Möglichkeit der Revolution. Insofern ist es falsch, den Kapitalismus und seine Herrschaft als »Biopolitik« zu bezeichnen.

Dasselbe gilt für das Konzept der Minderheiten. Mit den Minderheiten verschwinden die Klassen, während die Dualismen der Geschlechter, der »Rassen« und der Klassen – im Marx‘schen Sinne – in den letzten 50 Jahren stark zugenommen haben. Das Minderheitenwerden, das Deleuze und Guattari fordern, ist vom revolutionären Werden abgeschnitten, obwohl es, um sich entfalten zu können, die Dualismen auflösen muss, was einen Bruch, eine Verweigerung, die Errichtung einer Teilung impliziert, aus der heraus eine andere Subjektivität produziert werden kann. Die Einzigen, die das Konzept der Klasse zusammen mit dem »Hass«, der ihnen als Handlungsanleitung diente, beibehalten haben, sind die Kapitalisten und Staatsmänner. Sie erklären ohne Komplexe, dass ein Klassenkrieg im Gange ist und dass sie dabei sind, ihn zu gewinnen. Man kann sogar sagen, dass sie ihn ohne den Schatten eines Zweifels gewonnen haben. Aber sie dürfen sich nicht zu früh freuen, denn ihr Sieg hat den Krieg zwischen den Imperialisten und zwischen den Staaten, der gerade entfesselt wird, nicht verhindert.

Sprechen wir über das Verhältnis von Produktion und Zerstörung. Wie schon bemerkt kritisieren Sie den Standpunkt, dass Kapitalismus im wesentlichen Produktion sei. Produktion des Werts, der Welt, die uns umgibt, Reproduktion der Gesellschaft. Ihrer Meinung nach ist der Kapitalismus seit dem Ersten Weltkrieg gleichzeitig und unmittelbar Produktion und Zerstörung, und diese Identität ist die wahre Ursache der ökologischen Katastrophe, die uns bedroht.

Die grundlegende Veränderung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert war nicht die Finanzkrise von 1929, sondern der Erste Weltkrieg. Die Zerstörung ist eine Bedingung der kapitalistischen Entwicklung – Schumpeter nennt sie »schöpferische Zerstörung« –, die mit dem »großen Krieg« von relativ zu absolut wird. Der Krieg von 1914 führt eine große Neuerung ein: die Integration von Staat, Monopolwirtschaft, Krieg, Arbeit, Gesellschaft, Wissenschaft und Technik in eine Megaproduktionsmaschine für den Krieg, eine »totale Mobilmachung« für die »totale Produktion«, die auf Zerstörung ausgerichtet ist. Ernst Jünger sagt in »Die totale Mobilmachung« von 1930, dass der Krieg weniger einem Kampf als einem gewaltigen Arbeitsprozess gleicht. Man schafft neben den Armeen, die an der Front kämpfen, die Armee der Kommunikation, des Transports, der Logistik, die Armee der Arbeit, der Wissenschaft und Technik und so weiter, um rund um die Uhr das Produkt dieser Megaproduktion an die Front zu schicken, die den ebenfalls mechanisierten und automatisierten Markt bildet, auf dem alles verbraucht – also vernichtet! – wird.

Das drückt der totale Krieg aus?

Total bedeutet, dass die gesamte Gesellschaft in die Produktion eingebunden ist. Die Unterordnung der Gesellschaft unter die Produktion fand nicht in den 50er und 60er Jahren statt, sondern während des Großen Krieges. Das, was Marx als General Intellect bezeichnet, entsteht in dieser Zeit und ist und wird immer vom Krieg geprägt sein. Die totale Mobilisierung bestimmt einen großen Sprung in der Produktion und in der Produktivität, aber Produktion und Produktivität stehen für Zerstörung. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus ist die Produktion gesellschaftlich, aber sie ist identisch mit der Zerstörung. Die Steigerung der Produktion ist auf eine Steigerung der Fähigkeit zur Zerstörung ausgerichtet.

Wenn der Kapitalismus jemals eine »revolutionäre« Eigenschaft hatte, so verliert er sie mit dem Ersten Weltkrieg vollständig. Es beginnt ein wilder Wettlauf um neue Erfindungen und Entdeckungen, die darauf abzielen, die Zerstörungskraft zu erhöhen: den Feind, seine Armee, aber auch seine Bevölkerung und die Infrastruktur des Landes zu zerstören. Dieser Prozess findet seine Vollendung im Bau der Atombombe während des Zweiten Weltkriegs. Die Wissenschaft, der höchste Ausdruck von Kreativität und Produktivität des sozialen Wesens, erweitert die Zerstörungskraft radikal: von nun an stellt die Atombombe das Überleben der Menschheit selbst zur Diskussion.

Und nach dem Zweiten Weltkrieg?

In der Nachkriegszeit wurde diese Produktions- und Zerstörungsmaschine nicht abgebaut, sondern in den Wiederaufbau investiert. Der Nachkriegskapitalismus nutzt weiterhin die Integration, die in den totalen Kriegen entstanden ist, und produziert außergewöhnliche Wachstums- und Produktivitätsraten, denen ebenso außergewöhnliche Zerstörungsraten der Bewohnbarkeit des Planeten entsprechen. Die menschliche Spezies ist – zusammen mit vielen anderen Lebewesen – vom Aussterben bedroht. Es ist nicht mehr die »Natur«, die die Menschheit »bedroht«, sondern die Klassen, die diese wirtschaftlich-politische Maschinerie »lenken«. Die Identität von Produktion und Zerstörung setzt sich im Rahmen eines »Friedens« fort, dessen Bedingungen der Möglichkeit immer noch durch den Krieg gegeben sind, kalt im Norden und sehr heiß im Süden, wo sich der »Weltbürgerkrieg« konzentriert, von dem 1961 Hanna Arendt und Carl Schmitt sprachen. Nur eine eurozentrische Illusion kann die »Trente Glorieuses« von 1945 bis 1975 als eine Zeit des Friedens denken.

Der Neoliberalismus übernimmt ohne Hemmung die Parole der »totalen Mobilisierung« für die »totale Produktion«, die der Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit zwar praktiziert, aber nicht anerkannt hatte. Die wirtschaftspolitische Matrix ist immer noch die des Ersten Weltkriegs, und die neue Globalisierung, die Intensivierung der Finanzialisierung und die Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht vergrößern nur ihre produktive und destruktive Dimension, indem sie ihre autoritären und antidemokratischen Merkmale hervorheben. Der Neoliberalismus entsteht nicht nur aus den Bürgerkriegen in Lateinamerika, sondern speist sich auch aus all den Kriegen, die die Amerikaner und die Nato weltweit ausgerufen haben, zunächst gegen einen Feind, den sie selbst mit geschaffen haben – den islamistischen Terrorismus – und dann gegen die aufstrebenden Mächte der Befreiungskriege vom Kolonialismus – das wahre Ziel des aktuellen Krieges ist China.

Der mögliche Untergang der Menschheit durch die konzentrierte Gewalt der Atombombe, den Günther Anders in den 1950er Jahren ankündigte, wird heute durch die »diffuse Gewalt« der globalen Erwärmung, der Degradierung der Biosphäre, der Erschöpfung der Böden, der Übernutzung der Erde und so weiter neu entfacht. Zwei unterschiedliche Zeitlichkeiten – die Momentaufnahme der Bombe und die Dauer der ökologischen Degradierung – laufen auf das gleiche Ergebnis zu, weil sie aus derselben Quelle stammen, der Identität von Produktion und Zerstörung. Im aktuellen Krieg in der Ukraine leben wir unter einer doppelten Bedrohung – der atomaren, die nie verschwunden war – und der »ökologischen«.

Die zeitgenössischen politischen Bewegungen sind sehr schwach, da sie nicht in der Lage sind, den Krieg auf der Grundlage einer Klassenlogik zu politisieren, wie es die Revolutionäre vor einem Jahrhundert im Ersten Weltkrieg taten. Die Fähigkeit, den Krieg zu spalten, ist uns völlig entglitten, weshalb es dringend notwendig ist, die Debatte über Krieg und Revolution wieder aufzunehmen.

Marx, Lukács und Luxemburg haben alle postuliert, dass die Klasse ihr Bewusstsein entwickeln muss, um sich zu politisieren. Was wird aus dem Klassenbewusstsein in Ihrer Konzeption? Was ist dieser Bruch, von dem Sie sprechen?

Ich werde aus meiner Erfahrung heraus antworten: Mir scheint, dass das »Bewusstsein« dem Bruch nicht vorausgeht, sondern sich aus ihm ergibt. Wer an einem politischen Moment von einer gewissen Intensität teilgenommen hat, weiß sehr wohl, dass er sich nicht bewusst engagiert. Sein Engagement läuft in erster Linie über Affekte. Es kommt zu einem Moment des Bruchs, der dich von einer Welt in eine andere Welt, von einer Zeit in eine andere Zeit, von einer Lebensweise in eine andere Lebensweise wechseln lässt. Du beginnst, die Dinge anders zu sehen. Dieser Bruch mit der »Welt« geschieht über Affekte – danach versuchst du, einen Weg zu finden, ihn zu rechtfertigen und so weiter. Aber zuerst ist es eine Art von Affekt, der dich berührt.

Nur weil du Karl Marx gelesen hast, heißt das noch lange nicht, dass du revoltierst. Wenn du Lust hast, liest du Karl Marx, aber das ist nicht der Grund für den Bruch und die Revolte. Man darf die Zeit der Revolte – eine ungewöhnliche, unübliche Zeit, die mit der Zeit der Geschichte bricht, eine Zeit, die mit der karnevalistischen Zeit des Umsturzes von Hierarchien vergleichbar ist – nicht von der Zeit der Revolution trennen, die brav innerhalb der »historischen Zeit« bleiben würde. Letztere ist nicht nur das bewusste Projekt »einer radikalen Veränderung«, das gezwungen ist, die Möglichkeiten und Strategien zu bewerten, um den Kairos, die »günstige Zeit«, zu nutzen. Ich denke, dass diese beiden Zeiträume des revolutionären Prozesses zusammen gedacht und organisiert werden müssen.

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