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»Ich traue den Beteuerungen nicht«
Bernd Drücke glaubt nicht, dass beim Zensus 2022 die Daten der Bürger geschützt sind
Was ist am Zensus 2022 besser als bei der Volkszählung in der alten Bundesrepublik 1987, gegen die es so viel Protest gab?
Bernd Drücke ist Soziologe und arbeitet im Archiv für alternatives Schrifttum (afas) in Duisburg. 1987 stand er in Münster als Volkszählungsboykott-Aktivist vor Gericht. Gaston Kirsche sprach mit ihm über die bereits laufenden Befragungen im Rahmen des Zensus 2022. Ungefähr 10,3 Millionen Personen werden zu Wohnort, Beruf, Alter, Bildung oder Familienstand befragt. Die Teilnahme ist für sie verpflichtend, bei Verweigerung drohen Bußgelder bis zu 5000 Euro. Zusätzlich wird auch die Zahl der Wohnungen und Wohngebäude in Deutschland ermittelt. Dazu müssen etwa 23 Millionen Eigentümer*innen Auskunft geben.
Der Zensus ist sozusagen eine kleine Volkszählung. Ohne die erfolgreichen Kampagnen gegen die Volkszählung in den 1980er Jahren gäbe es heute wahrscheinlich keinen Zensus. Anders als bei der gestoppten Volkszählung 1983 und der de facto gescheiterten Volkszählung 1987 werden beim Zensus 2022 nicht alle, sondern nur zehn Millionen Bundesbürger*innen befragt. Das erschwert allerdings auch den Widerstand. Eine Massenbewegung gegen den Zensus, wie es sie 1983 und 1987 gegen die Volkszählungsversuche gab, ist nicht realistisch, auch weil die Menschen heute vereinzelter sind und sich daran gewöhnt haben, ihre Daten bei allen möglichen Gelegenheiten im Internet preiszugeben.
Dann war der Boykott 1987 ein Erfolg?
Er war insofern erfolgreich, als 1983 die Volkszählung durch den Massenprotest der VoBo-Bewegung, wie wir die Volkszählungsboykott-Bewegung kurz nannten, gestoppt werden konnte und das Bundesverfassungsgericht erstmals das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bestätigt hat. Das hat zu einem Bewusstseinswandel und zu einem Problembewusstsein bei vielen Menschen geführt. Der Protest hat dazu geführt, dass der Staat 1987 vor allem viele unbrauchbare Daten bekommen hat. Viele Menschen haben den Volkszählungsbogen für ihre Katze ausgefüllt oder ihn gleich bei der VoBo-Initiative abgegeben. Seit 1987 hat es deshalb keine richtige Volkszählung mehr in der Bundesrepublik gegeben. Das ist ein Erfolg. Der Staat hat daraus gelernt, dass er lieber nur einen Zensus durchführt und sich andere Daten über diverse Behörden besorgt.
Die Kritik an der Volkszählung hat sich damals über Jahre entwickelt?
Ja, während der Terroristen-Hysterie in den 1970er und 80er Jahren hat der westdeutsche Staat den Datenschutz ausgehebelt und durch Rasterfahndung, Überwachung und Repression insbesondere auch in den neuen sozialen Bewegungen das Vertrauen verspielt. Die Angst vor dem gläsernen Bürger hatte und hat gute Gründe.
Was waren die Gründe für den Boykott?
Einerseits gab es die Angst vor einem Überwachungsstaat, wie ihn George Orwell in seinem berühmten Roman »1984« schilderte – vor einem Staat also, der alles über seine Bürger*innen wissen will, um seine Herrschaft zu perfektionieren. Zählt nicht uns, sondern eure Tage – dieser beliebte Slogan der VoBo-Bewegung macht deutlich, dass sie sich auch gegen die Herrschenden und das kapitalistische System richteten. Der damalige CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, waren als Hauptverantwortliche der Volkszählung keine Vertrauenspersonen. Der Boykott war für viele eine Gelegenheit, ihren Unmut über die repressive Politik und den Datenhunger des Staates deutlich zu machen.
Was für Medien hat die Bewegung damals genutzt?
Die bevorzugten Medien waren die alternativen Stattzeitungen und Organe der sozialen Bewegungen wie »Graswurzelrevolution«, »Arbeiterkampf« und auch die »Taz«. Wir haben Flugblätter, Szeneblätter und Broschüren unter die Leute gebracht. Sie wurden in hoher Auflage gedruckt und verbreitet. Gegen all das gab es 1987 eine Repressionswelle. Der auf Flugblättern und in Zeitungen propagierte Vorschlag, die Kennnummer aus den Volkszählungsbögen zu schneiden, sei eine öffentliche Aufforderung zu Straftaten, hieß es. Ich stand damals als 21-jähriger Student vor Gericht, weil ich einen Büchertisch des Münsteraner Umweltzentrums mitverantwortet und Flugblätter verteilt hatte. Mein Prozess 1987 war trotz Verurteilung ein politisches Happening, das mich in meiner Haltung bestärkt hat. Die Prozesse dienten der Einschüchterung, was aber von den Initiativen durch Solidarität unterlaufen wurde.
Ist der Zensus 2022 datenschutzkonform?
Angeblich wird alles anonymisiert. Aber ich traue den Beteuerungen nicht. Warum sollten sich nicht genauso wie bei der Volkszählung 1987 auch heute wieder Neonazis unter die Zähler*innen mischen, um Daten über unliebsame Menschen zu sammeln? Der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Georg Thiel, hat in der »Tagesschau« den Zensus 2022 begründet: Wer gute Politik machen wolle, der müsse erst mal Fragen stellen. Wieso wurden wir dann nicht gefragt, als beschlossen wurde, einen Sonderetat von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr einzurichten und den Militäretat auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen?
Warum ist es um den Zensus aber jetzt so still?
Einerseits geben die Menschen heute mit jedem Posting in den Sozialen Medien Daten an große Konzerne wie Google und Facebook weiter. Seit Edward Snowdens Enthüllungen wissen wir, dass de facto jedes Telefongespräch von der NSA mitgeschnitten wird. Die Dystopie, vor der wir 1987 gewarnt hatten, ist heute weitgehend Realität, auch wenn die repressive Überwachung im Vergleich zu der in Diktaturen wie China vergleichsweise harmlos wirkt. Die drastischen Strafandrohungen für Menschen, die sich dem Zensus verweigern, spielen heute sicher eine größere Rolle als 1987. Wer beim Zensus 2022 falsche Angaben macht, soll 5000 Euro Strafe zahlen, wer sich weigert, wird immer wieder mit Bußgeldern überzogen, bis er oder sie zahlt. Empörung darüber wird kaum öffentlich geäußert, weil sowohl Vereinzelung als auch Akzeptanz größer sind.
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