Europas historische Verantwortung

Ein europäisches Sicherheitssystem, das Russland nicht einbezieht, kann dem Frieden nicht dienlich sein. Eine chinesische Sicht auf den Ukraine-Krieg

  • Chunchun Hu
  • Lesedauer: 8 Min.

Betrachtet man die Worte und Taten aller am Ukraine-Konflikt Beteiligten, so muss man zu dem pessimistischen oder – um es diplomatisch auszudrücken – wenig optimistischen Schluss kommen, dass sich der Konflikt vor den Augen der zivilisierten Welt im freien Fall in eine Richtung befindet, die nur einen Sieger kennt.

Russland hat der Nato und der Ukraine lange vor der Eskalation die Karten auf den Tisch gelegt, deren Kernbotschaft darin besteht, dass die Nato nicht weiter nach Osten expandieren dürfe und die Ukraine neutral sein müsse. Derzeit sieht es nicht danach aus, dass Russland mit dem Krieg aufhören wird, bevor seine Ziele erreicht sind. Zivile Opfer werden skrupellos als Kollateralschaden einkalkuliert; die Ukraine, die in den letzten Jahren den Nato-Beitritt zu ihrem nationalen Anspruch erhoben hat, entscheidet sich nun dafür, den Kampf mit Unterstützung der Nato fortzusetzen.

Ein Entgegenkommen im russischen Sinne kommt für die Ukraine nicht in Frage; die Nato und die EU-Länder haben in diesem Konflikt alle Register gezogen, die von umfassenden Sanktionen gegen Russland bis hin zu weitreichender und vor allem militärischer Unterstützung für die Ukraine reichen. Nur die direkte militärische Konfrontation mit Russland scheut man noch. Russland soll nach dem Willen von US-Präsident Joe Biden zu einem »Paria« der internationalen Gemeinschaft degradiert werden. Deutschland, die stärkste Volkswirtschaft der EU, hat über Nacht das Narrativ der »Zivilmacht« aufgegeben, das in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit sorgsam gepflegt worden war, und eilig eine Aufrüstung angekündigt, die gleich durch ein »Sondervermögen« von 100 Milliarden Euro eingeleitet wird.

Als chinesischer Wissenschaftler, der auf Europa- und Deutschland-Studien spezialisiert ist, ist mir die Logik dieses Konflikts bzw. die Denklogik der Konfliktparteien alles andere als fremd. Der Erste Weltkrieg – die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie sie vom US-amerikanischen Historiker George F. Kennan zu Recht bezeichnet wurde – war bereits das Produkt dieser Logik. Vor über 100 Jahren standen sich die europäischen Nationalstaaten, gestärkt durch ihre Kolonien und ihren weltweiten Einfluss, in feindlichen Lagern gegenüber. Ihr Krieg war das Mittel zu Zwecken, die sich in ihren jeweiligen hegemonialen Ansprüchen und denen ihrer Bündnisse ankündigten.

Die Pariser Friedenskonferenz folgte derselben Logik und schuf eine »The winner takes all«-Ordnung. Damit gab sich das besiegte Deutschland nicht zufrieden und entfachte einen weiteren Weltkrieg, dessen berechnende Grausamkeit industriellen Ausmaßes alle vorangegangenen Kriege in den Schatten stellte. Doch die beiden Weltkriege konnten das europäische Verlangen nach einer Entscheidung für einen endgültigen Sieger nicht vollständig befriedigen, so dass eine kontrollierte, aber nicht weniger explosive Konfrontation, deren Hauptschauplatz Europa war, geradezu als das Gebot der Stunde erschien. Im Verlauf des Kalten Krieges unter gegenseitiger atomarer Abschreckung entging die Welt mehrfach nur knapp einer Eskalation in heiße Auseinandersetzungen.

Auch ist es keine Neuheit, dass die Kriegsparteien ihrem Handeln eine moralische Dimension verleihen und sich gegenseitig der Kriegsverbrechen und -schuld bezichtigen. Im Ersten Weltkrieg verabscheuten Großbritannien und Frankreich die »hunnenhafte« Aggression Deutschlands. Darauf reagierten 93 deutsche Intellektuelle mit dem Aufruf »An die Kulturwelt!«, in dem der deutsche Krieg als Verteidigung der Kultur gerechtfertigt wurde. Wer war am Kriegsausbruch schuld? Sowohl David Lloyd George, der britische Premierminister zur Zeit des Ersten Weltkriegs, als auch Christopher Clark, der Cambridge-Historiker des 21. Jahrhunderts, sind sich einig, dass der Erste Weltkrieg durch das »Schlafwandeln« aller Beteiligten, die aktiv und willig in die offensichtliche Kriegsfalle hineinschlitterten, ausgelöst wurde.

Aus der Geschichte scheint Europa wenig gelernt zu haben. In diesen Tagen werfen die Nato und Europa Russland die Verletzung des Völkerrechts und Barbarei vor. Die russische Erwiderung darauf kommt in einer Ansprache der Russischen Vereinigung von Rektoren, die die Unterschriften von 250 Hochschulrektoren trägt, zum Ausdruck: In diesem Konflikt gehe es Russland um die »Entmilitarisierung«, »Entnazifizierung« und den »Schutz vor der wachsenden militärischen Bedrohung« in der Ukraine. Steht die europäische Geschichte still oder täuscht man sich hier?

Einerseits stellt Europa zweifellos den Leuchtturm der modernen menschlichen Zivilisation dar; andererseits hat es diese wiederholt an den Rand des Zusammenbruchs und der Zerstörung gebracht. Das moderne Europa erscheint in dieser Perspektive als eine janusköpfige Zivilisation mit einer entsetzlichen Fratze der Barbarei, die ihrerseits in eine heilige Fassade absoluter Werte und Ideen verpackt wird.

Es kommt in der europäischen Geschichte äußerst selten vor, dass Kritik nicht-europäischer Herkunft an diesem unerschütterlichen europäischen Sendungsbewusstsein erwünscht ist.

Erlauben Sie mir als jemandem, der die zivilisatorische Leistung Europas stets bewundert und dennoch in der chinesischen Kultur verwurzelt ist, einen Appell in Richtung Europa auszusprechen: In diesem Konflikt geht es wahrlich nicht um den Endkampf zwischen Freiheit und Unfreiheit der Menschheit, sondern vielmehr um die Fortsetzung der Geschichtslogik des modernen Europas. Es ist an der Zeit, dass die Europäerinnen und Europäer sich dieser ihrer Logik stellen und diesem Nullsummenspiel des Wahnsinns ein Ende setzen! Die Kulturen außerhalb Europas gehen voller Angst und Abscheu mit dieser europäischen Geschichtslogik um. Europa hat kein Recht, die ganze Welt zu zwingen, sich nach einem katastrophalen Jahrhundert erneut der Wahl zwischen Krieg und Frieden, zwischen Überleben und Zerstörung zu stellen.

Dass der russisch-ukrainische Konflikt im Wesentlichen ein europäisches Problem ist, ist kein skrupel- und verantwortungsloses, die Gerechtigkeit missachtendes und Tatsachen verdrehendes Argument eines chinesischen Akademikers, sondern eine schlichte Feststellung im Geiste der europäischen Vernunft. Die kenianische Wissenschaftlerin Martha Bakwesegha-Osula hat in der Monatsschrift »Internationale Politik und Gesellschaft« die afrikanische Sicht auf den russisch-ukrainischen Konflikt zum Ausdruck gebracht: »European solutions to European problems!« (Europäische Lösungen sind europäische Probleme) Diese Sicht ist auch ein wichtiger Grund, warum sich viele Länder, in denen fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung zur Lage in der Ukraine am 2. März der Stimme enthalten haben.

In diesen Tagen werden europäische Stimmen immer lauter, dass China in die diplomatische Vermittlung zur Beilegung des russisch-ukrainischen Konflikts einbezogen werden solle. China seinerseits kann sich der Frage schwer erwehren, inwiefern Europa chinesische Hilfe im Ernst bräuchte. Würde Europa die chinesische Wertevorstellung vom Primat des Friedens und der Harmonie akzeptieren? Denn anders als die europäische Siegerlogik kennt die chinesische Geschichtserfahrung Kompromisse und Praktiken, die nicht selten in Europa als ein »Frieden des Friedhofs« und »Scheinfrieden« bezeichnet werden. Wird dem chinesische Credo – »Wenn Sie geduldig bleiben, werden Sie Ruhe und Frieden finden; wenn Sie einen Schritt zurücktreten, werden Sie mehr Raum gewinnen« – in Europa Sympathie entgegenschlagen oder Verachtung? Erwartet Europa im Falle einer chinesischen Vermittlung einen Kompromissfrieden, oder will es, dass China sich auf die Seite Europas stellt und so im europäischen Nullsummenspiel mitspielt?

Aufmerksamen Lesern wird auffallen, dass ich den russisch-ukrainischen Konflikt stets im Rahmen von Europa und nicht im Rahmen von Europa und Russland oder »Der Westen und Russland« behandele. Mit anderen Worten: Der künftige europäische Sicherheitsrahmen muss einer sein, der Russland und die europäischen Staaten im engeren Sinne zusammendenkt, und nicht einer, der Russland gegenüber ausschließend oder konfrontativ eingestellt ist. Ein europäisches
Sicherheitssystem, das Russland nicht einbezieht, ist schlicht Realitätsverweigerung bzw. -flucht und kann dem europäischen Frieden nie dienlich sein.

Schon auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs haben es die beiden Blöcke nach zähen Verhandlungen in Helsinki geschafft, sich im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auf Entspannung, Verständnis und Friedensförderung zu einigen. Leider wurden diese gemeinsamen Anstrengungen nach dem »Ende der Geschichte« und damit dem vermeintlichen Triumph des Westens mehr oder weniger bewusst vernachlässigt. Der russische Präsident Putin hat sich in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001 über das mangelnde Vertrauen Europas gegenüber Russland beschwert und wollte dennoch zu Europa gehören: »Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel.«

Die weitere Entwicklung in Europa nahm bekanntlich einen anderen Lauf, Russland und Europa bzw. der Westen haben sich in vielerlei Hinsicht voneinander entfremdet; gesellschaftlich, kulturell und ideologisch. Die einstige Bereitschaft zur Annäherung ist der Konfrontation gewichen, die sich 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine als regional begrenzte kriegerische Auseinandersetzung entlud. Es waren schon Vorboten einer Rückkehr der geschichtlichen Logik des modernen Europas. Spätestens ab diesem Zeitpunkt haben sich der Fortschrittsgedanke sowie die Vorfreude auf die Postmoderne als kurzsichtiger Selbstbetrug entpuppt.

Wenn sich Europa – in diesem Fall sind damit die europäischen Nato-Mitgliedsstaaten und die Europäische Union gemeint – für Konfrontation als Lehre aus diesem Konflikt entscheidet, dann steht ihm eine düstere Zukunft bevor, und der ganzen Welt droht durch die Wahl Europas ein Rückfall ins 19 und 20. Jahrhundert. Auch ein kostspieliger Frieden ist immer besser als ein Krieg, der den Weg für hegemoniale oder heroische Siegesfantasien ebnet.

Europa muss just in diesem Moment seine eigene Entscheidung treffen, und das ist seine historische Verantwortung für den Weltfrieden.

Dr. Chunchun Hu, Jahrgang 1972, studierte Germanistik an der Peking-Universität. Er ist Associate Professor für Deutschland-Studien und Direktor des Masterstudiengangs »Europa-Studien« an der Academy of Global Governance and Area Studies der Shanghai International Studies University. Der hier veröffentlichte Text entstammt der Mai-Ausgabe des außenpolitischen Journals »Welttrends«, das u.a. einen Themenschwerpunkt »Neutralität und Ukraine« enthält.
Zum Weiterlesen: welttrends. de

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.