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- WM-Boykottdebatte
Wegducken zieht nicht mehr
Der DFB weiß, dass er die Menschenrechtsdebatte vor der Fußball-WM in Katar nicht mehr einfach aussitzen kann
Eine Besprechung ist für Profifußballer etwas Alltägliches. In der Regel geht es meist um fußballspezifische Themen, doch am Mittwoch erlebten die deutschen Nationalspieler am Sitz eines Ausrüsters in Herzogenaurach die Ausnahme. Erst kamen Kai Havertz, Julian Brandt und Nico Schlotterbeck in den Raum »Feel3« der sogenannten »World of Sport«, ehe sich bald darauf Leon Goretzka, Manuel Neuer, Serge Gnabry und schlussendlich auch Nachzügler Thomas Müller einen Platz in den ersten drei Reihen suchten. Sie wollten sich eine vielschichtige Diskussion zum umstrittenen WM-Ausrichter Katar anhören.
Eine Stunde lang lauschten der komplette Kader, Trainer und Betreuer den Beiträgen verschiedener Experten, ehe Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff zusammenfasste: »Es gibt nicht diese eine Wahrheit!« Gleichwohl: Auch seine jüngsten Reisen ins Emirat haben bei ihm die Zweifel genährt, ob da wirklich ein passender WM-Ausrichter gekürt worden ist: »Es ist eine Entwicklung im Gange, aber es reicht in vielen Dingen nicht, es hapert an vielen Stellen.« Es gebe in dem reichsten Land der Erde »verschiedene Klassen von Menschen, die sehr isoliert voneinander leben – die dritte und vierte Klasse, die siehst du nicht!« Bierhoff versprach: »Da hat der Fußball eine Verantwortung.«
Der Deutsche Fußball-Bund will sich – anders als vor der WM 2018 in Russland – nicht mehr vor solch heiklen Themen wegducken. Die gerne drei Comic-Affen nachempfundene Haltung – nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – wird nicht greifen, wenn am 21. November die mit Abstand umstrittenste WM der Geschichte startet. Deshalb stand drei Tage vor dem Nations-League-Duell in Bologna gegen Italien eben auch nicht wie üblich eine eher vorhersehbare Pressekonferenz an, sondern eben jenes Dialogforum.
Dabei kamen ganz unterschiedliche Ansichten zur Sprache. Für Martin Endemann von den Football Supporters Europe liegen nicht nur die Presse- und Redefreiheit sowie die Menschenrechte in dem Wüstenstaat am Boden, der Fansprecher zerpflückte auch das Argument, dass die Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen in »Unrechtsstaaten wie Katar« irgendetwas verändere. Das sei ein Irrglaube: »China und Russland sind die besten Beispiele: Die Lage hat sich weder durch Olympische Spiele noch durch eine Fußball-WM verbessert.« Er würde sich wünschen, dass ein so großer Sportverband wie der DFB die Forderung von Amnesty International nachdrücklich unterstütze, dass die Fifa die ausgebeuteten Arbeitsmigranten über einen Fonds entschädige. Es ist keine einfache Debatte, die das DFB-Team mit in die Wüste begleitet. Nationalspieler können Fragen nach der Einhaltung der Menschenrechte nicht mehr einfach ins Aus befördern, wie den Ball nach einer gefährlichen Flanke des Gegners.
Auch der aus Boston zugeschaltete Thomas Hitzlsperger als DFB-Botschafter für Vielfalt glaubt nicht, »dass der DFB und andere Verbände in wenigen Wochen das Land verändern können.« Für den ehemaligen Nationalspieler ist das »größte Problem, dass Staaten wie Russland und Katar die WM überhaupt bekommen«. Gleichwohl machte er auf den Widerspruch aufmerksam, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gerade dabei sei, größere Lieferungen von Erdöl und Erdgas vertraglich abzusichern. Wie hoch also solle ein Sportverband bei den aktuellen geopolitischen Spannungen die moralische Messlatte legen? Hitzlsperger sprach von einem »Dilemma«, wenn der Fußball höhere Auflagen als ein Wirtschaftsunternehmen erfüllen solle.
Für den seit 2017 bei der Fifa arbeitenden Sicherheitsdirektor Helmut Spahn ist ohnehin alles nicht ganz so schlimm wie es Menschenrechtsorganisationen schildern: »Die Entwicklung, die das Land genommen hat, stimmt uns positiv.« Es habe sich enorm viel getan. Der ehemalige Boss der Offenbacher Kickers war viele Jahre zuvor selbst für eine katarische Sicherheitsfirma tätig und riet dringend von einem Boykott ab, denn: »Das stärkt genau die, die zu alten Systemen zurückwollen. Das ist der falsche Weg.«
Das sieht die Fanorganisation »ProFans« ganz anders. Sie hatte zuletzt vom DFB in einem Offenen Brief eine Befragung seiner mehr als sieben Millionen Mitglieder zur WM-Teilnahme gefordert. Die WM werde eine Veranstaltung sein, hieß es an DFB-Präsident Bernd Neuendorf, »die direkt mit der gnadenlosen Ausbeutung von Arbeitsmigranten und mit dem Leben vieler junger und bei der Einreise nach Katar noch kerngesunder Menschen bezahlt wurde«. Es gehöre sich einfach nicht, hier »ein rauschendes Fest zu feiern«. Darüber kamen deutsche Fan- und Vereinsinitiativen gerade bei einem Netzwerktreffen überein.
Sorge bereitet vor allem der Umgang mit der Gemeinschaft der LGBTQI+, also Menschen, die von der heterosexuellen Norm unterschiedliche Identitäten und sexuelle Orientierungen haben. Christian Rudolph als Leiter der DFB-Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist die jüngste Aussage des Emirs von Katar übel aufgestoßen, der zwar alle WM-Gäste willkommen heißen will, aber gleichzeitig betonte, dass die Kultur seines Landes akzeptiert werden müsse. Rudolph sah darin eine unverhohlene Drohung: »Denn Homosexualität steht zugleich in dem Land unter Strafe. Wenn Händchenhalten, wie man das im Urlaub macht, schon unter Strafe steht – das gibt kein Sicherheitsgefühl, definitiv nicht.«
Dieselbe Sorge teilt auch Pia Mann von Discover Football: »Ich würde mich nicht sicher fühlen, mit meiner Partnerin nach Katar zu reisen. Die Freiheiten, die wir hier haben, gibt es dort nicht. Die Fifa hat sich vor einigen Jahren selbst Menschenrechtsstatuten auferlegt, die sie aber nicht verfolgt.« Für Mann ist die Weltsportart Fußball längst »hochpolitisch« – und auch »ein emanzipatorisches Mittel«. Sie würde sich als Protestnote von der deutschen Mannschaft übrigens wünschen, dass auch bei der WM die Regenbogenbinde getragen wird. Zudem könnten die Spieler mit ihren riesigen Reichweiten in den Sozialen Medien einiges bewirken, wenn sie im Pride-Monat Juni die Regenbogenfarben zeigen oder das Outing des 17-jährigen Engländers Jake Daniel liken würden. »Das sind symbolische Zeichen, die viel ausmachen.« Und die jeder Profifußballer in seinem Alltag bewerkstelligen könnte – wenn er denn dahintersteht.
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