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Geteilte Erinnerung
Bernd Heyl hat einen antikolonialen Reisebegleiter für Namibia verfasst
Dieses Erinnerungsbuch schließt eine Lücke. Das beginnt bereits mit dem Cover: Eine namibische Frau – sie heißt Uakondjisa Kakuekuee Mbari – spaziert selbstbewusst in traditioneller Kleidung zwischen den Gleisen des Bahnhofs von Swakopmund. Ihr Kleid ein leuchtend roter Farbtupfer im tristen Grau-Braun des Bahnhofgeländes. »Remembering Those Who Built This Line« nennt die Künstlerin Nicola Brandt, selbst Namibierin, ihre Fotografie. Der Betrachter wird eingesaugt in einen Gedenk- und Erinnerungsort. Die Gleise sind von den Vorfahren der indigenen Völker Namibias, den Herero und Nama, auf Befehl der deutschen Kolonialherren und in Zwangsarbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen verlegt worden, darunter viele Frauen. Noch heute findet man dort Knochen der verscharrten, an Erschöpfung gestorbenen Sklavenarbeiter. Auch wenn die Bundesregierung inzwischen, nach jahrzehntelangem unerträglichem Leugnen, die Schuld am Genozid im damaligen so genannten Deutsch-Südwestafrika anerkennt: Die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte steht noch am Anfang.
Dazu leistet das Buch von Bernd Heyl einen bemerkenswerten Beitrag. Der einleitende Teil behandelt sensibel die Problematik von Fern-Reisen und kolonialem Blick des Nordens auf den Süden, hier konkret am Beispiel von Namibia. Gleichsam wie ein Kommentar lesen sich die fotografischen Zeugnisse von Helga Roth, etwa eine Bierflasche mit der Aufschrift »Windhoek Premium Lager«, das noch heute nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird, oder die Frontansicht vom »Alten Amtsgericht in Swakopmund«. Heyl fragt: »Welche Gedanken ruft es bei Betrachterinnen und Betrachtern wach?« Nostalgische Erinnerungen? Vor dem Hintergrund eines Völkermordes?
Unter dem schlagkräftigen Titel »Kolonisieren heißt transportieren« findet sich hier auch ein Kapitel über den Eisenbahnbau, das »trojanische Pferd der ›Zivilisation‹«. Ab 1890 wurde darüber in Deutschland diskutiert, 1902 wurde die Staatsbahn Swakopmund-Windhuk in Betrieb genommen – gebaut mit dem Schweiß und Blut von 800 afrikanischen Lohnarbeitern und Gefangenen. Diente die Strecke zunächst dem schnelleren Warentransport vom Landesinneren ans Meer, so im Deutsch-Namibischen Krieg für Militärtransporte. Dabei unterstand die Bahn bis 1907 dem »kaiserlichen Eisenbahnkommando«. Helga Roth hat passend dazu ein Bahnhofsgebäude mit restaurierten Loren fotografiert, in denen dereinst Erzvorkommen transportiert worden waren. Jeder Hinweis, unter welchen Bedingungen hier gearbeitet wurde, fehle jedoch, merkt die Fotografin kritisch an. Erneut verstellt der nostalgisch-koloniale Blick die Sicht auf die wahren Hintergründe.
Den Hauptteil des Buches macht die präzise Beschreibung von zwanzig Erinnerungsorten aus, von Windhoek über Lüderitz bis zum »Hererofriedhof« in Okahandja. Alle werden mit einer Landkarte zur besseren Orientierung eingeführt, reich bebildert und, wenn nötig, mit Hintergrundinformationen in farbig unterlegten Texten versehen.
Exemplarisch sei der Beitrag über den Waterberg hervorgehoben, für den Heyl den renommierten Namibia-Forscher Henning Melber gewinnen konnte. In Stuttgart geboren, kam dieser als junger Mann nach Namibia, wo er sich der Befreiungsbewegung SWAPO anschloss. Heute lehrt er an der Universität von Pretoria, Südafrika. Das Tafelberg-Massiv, so Melber, sei nicht nur eine landschaftlich-attraktive Sehenswürdigkeit, sondern auch eine historisch bedeutsame Stätte. Dort fanden die entscheidenden Kämpfe zwischen den militärisch weit überlegenen »Schutztruppen« der deutschen Kolonialmacht und den Herero statt. Deren Vertreibung in eine wasserlose Wüstenlandschaft, was zu elendem Verdursten Tausender führte, sowie der »Vernichtungsbefehl« erhellen für Melber die Grausamkeit des deutschen Kolonialismus. Der Waterberg sei bis heute ein Symbol für einstiges Grauen. Und mehr noch: Auch eine historische Stätte für die Nachfahren der Herero. Und obendrein ein Nationalpark, in dem man Breit- und Spitzmaul-Nashörner sowie Büffel bewundern kann. Erinnerung, die einer auch heute noch gepflegten Kolonialromantik entzogen und der Natur zur Seite gestellt ist.
Heyl, langjähriger Lehrer, politischer Aktivist und Organisator von Studienreisen nach Namibia für die Bildungsgewerkschaft GEW, hat in dieses beeindruckende Buch all sein pädagogisches Gespür und seine Erfahrungen gesteckt. Wer nach Namibia reist, muss diesen »postkolonialen Reisebegleiter« mit im Gepäck haben. Solange Fernreisen unter den Bedingungen der Pandemie erschwert bleiben, kann er aber auch zu Hause als ein lebendiges antikoloniales Geschichtsbuch gelesen werden.
Bernd Heyl: Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte. Postkolonialer Reisebegleiter in die deutsche Kolonialgeschichte. Brandes & Apsel, 282 S., geb., 29,90 €.
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