Durchsuchung auf Verdacht

Anne Roth kritisiert Pläne für ein EU-Gesetz gegen »Kindesmissbrauch«

  • Anne Roth
  • Lesedauer: 4 Min.

»Mehr Fälle von Missbrauch«, so titelte die »Süddeutsche Zeitung« kürzlich, »Sexuelle Gewalt nimmt zu« die »Frankfurter Allgeimen Zeitung« (FAZ). Kurz vorher hatte der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, eine Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik zu Gewalt an Kindern vorgestellt – und die Zahlen sind erschreckend hoch.

An dieser Stelle ziehe ich den Hut vor der Öffentlichkeitsarbeit des BKA, denn nur wer ganz genau hingeguckt hat – offensichtlich weder »FAZ« noch »Süddeutsche« –, hat gesehen, dass nicht die Zahl der Gewalttaten gestiegen sind, sondern die Zahl der Fälle, von denen das BKA weiß. Weil der frühere Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) im vergangenen Herbst ebenfalls gestiegene Zahlen beklagte, fragte die Linksfraktion im Bundestag, was eigentlich der Grund für diese Steigerung sei. Und das Bundesinnenministerium antwortete im März: »Die starke Zunahme der Entdeckung von Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern im Netz, welche sich letztlich in der Polizeilichen Kriminalstatistik abbildet, ist ein Ergebnis der verstärkten Aufhellung des hohen Dunkelfeldes.« Und so hieß es dann beim BKA auch: »Die steigende Zahl an Hinweisen bedeutet auch enorme digitale Datenmengen, die polizeilich ausgewertet werden müssen.« Hinweise, nicht Fälle. Wie gesagt, schlimm genug, aber hier wird auch erkennbar, wohin die Reise geht.

Vor rund drei Wochen hat die EU-Kommission einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt an Kindern vorgestellt, der seitdem unter dem Stichwort »Chatkontrolle« heftig diskutiert wird. Anders als der Titel vermuten lässt, geht es aber nicht um alle Formen von sexualisierter Gewalt an Kindern, sondern um Aufnahmen davon und deren Vertrieb im Internet. Die sollen entdeckt, gemeldet, blockiert oder gelöscht werden – und das ist grundsätzlich völlig richtig. Das Problem dabei ist, dass dazu große Teile, vielleicht auch unsere gesamte digitale Kommunikation, durchsucht und ausgewertet werden soll: Immer dann, wenn der Verdacht besteht.

Wie entsteht der Verdacht? Das ist vorläufig noch das Geheimnis der Kommission. Es sollen Bilder und Videos gefunden werden: auf Plattformen, aber auch in verschlüsselten Messengern. Weil niemand all das tatsächlich sichten kann, sollen die Dateien automatisiert durchsucht werden. Jetzt könnte man sagen: Das ist besser, als wenn Beamt*innen all unsere Chats tatsächlich lesen. Aber sie suchen nach Bildern. Und damit ist es vielleicht doch keine so gute Idee, wenn nämlich alle Badewannen-Bilder für Oma, alle Fotos von nicht komplett bekleideten Erwachsenen automatisch als Verdachtsfall bei einem neuen EU-Zentrum landen, das praktischerweise direkt bei Europol angesiedelt sein soll? Hinzu kommt: Die Sicherheitsbehörden der EU wollen schon lange verschlüsselte Kommunikation mitlesen. Wie bei allen anderen Überwachungsbegehrlichkeiten jonglieren sie mit einer Handvoll Begründungen, die alle paar Jahre ausgetauscht werden: organisierte Kriminalität, Fußball-Hooligans, Terrorismus, Extremismus und aktuell wieder »Kindesmissbrauch«.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) begrüßte den Vorschlag zuerst. Aber als klar wurde, wieviel Gegenwind er bekam – aus den Ampel-Fraktionen, von Datenschutzbeauftragten, Reporter ohne Grenzen, selbst der Kinderschutzbund ist nicht glücklich damit –, gab es eine kleine Änderung im Sprachgebrauch des Ministeriums: »Jede private Nachricht anlasslos zu kontrollieren, halte ich nicht für vereinbar mit unseren Freiheitsrechten«, sagt Faeser nun und wurde anschließend gefeiert für die angebliche Korrektur ihrer Position.

Vielleicht erinnern sich noch einige an die Debatte über die Massenüberwachung durch Bundesnachrichtendienst und National Security Agency. Auch damals spielte eine Vokabel eine zentrale Rolle: Laut der damals regierenden Großen Koalition gab es nämlich keine »anlasslose Massenüberwachung«. Und so wird auch die Chatkontrolle nicht anlasslos sein, denn Anlass ist ja die Bekämpfung von Gewalt an Kindern. Ich bin gespannt, ob die SPD sich auf demselben Weg aus dem Dilemma windet.

Wenn es tatsächlich um Kinder ginge, stünde noch sehr viel mehr im Gesetz. Die bessere Ausstattung von Jugendämtern zum Beispiel. Aber was wirklich helfen würde: Wenn die katholische Kirche nach all den Verbrechen an Kindern endlich zur kriminellen Vereinigung erklärt und konsequent gegen die Täter ermittelt würde.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.