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Ist der Staat ein Koboldhai?
Die Oper »Einbruch mehrerer Dunkelheiten« von Felix Leuschner mit einem Text von Dietmar Dath wurde am Staatstheater Kassel uraufgeführt
Mysteriös ist das Setting, eine Oper, ein Thriller, ein politischer Fall: Eine Ermittlerin – verkörpert von zwei Sopranen, die sich gegenseitig ins Wort fallen oder ihre Sätze ergänzen, also in ständigem Dialog mit sich selbst – versucht im staatlichen Auftrag, den »Geldspielr« zu überführen: »Was treiben Sie mit Ihrem Geld?« Dieser – virtuos und komödiantisch verkörpert von der Schauspielerin Rahel Weiss in einer eindrucksvollen Sprechperformance mit einzelnen Gesangseinlagen – entzieht sich allen Fragen, macht sich über die Ermittlerin lustig, reißt Witze und klopft Sprüche über den Staat: »Ist der Staat ein Koboldhai, Mitsukurina owstoni, der Eklektrorezeptoren an einer Kopfspitze durchs Wasser schiebt?« Die bis an die Zähne bewaffnete Assistentin des Geldspielrs, eine aus einem Science Fiction-Film entstiegene »Bewaffnete«, bringt dem Geldspielr Cola Zero, verteilt Schmiergelder, »räumt Felsen fort, wenn ihm welche im Weg sind« und bringt die Konkurrenz ums Eck, ist also zuständig für die schmutzige Seite des Geschäfts. Hinter jedem erfolgreichen Geldspielr, also Kapitalisten, steht eine kriminelle und gewalttätige Kraft.
Dann gibt es noch einen Wissenschaftler, Doktor Interelektro, der an intelligenten Blitzen mit einer Lebensspanne von einer Attosekunde (ein Milliardstel einer Milliardstel Sekunde) und ihrem Einfluss auf die Menschen forscht. Und es gibt die Blitze, gesungen und getanzt. Geldspielr und Doktor Interelektro wollen mit diesen kommunizieren, doch sie entziehen sich, existieren in einer anderen Zeitordnung.
Verwirrend, das alles? Es kommt noch doller, skuriller, faszinierender, durchgeknallter!
Am Staatstheater Kassel kommt die Oper »Einbruch mehrerer Dunkelheiten« von Felix Leuschner mit dem Libretto von Dietmar Dath zur Uraufführung. Und zwar nicht irgendwo versteckt an einer Studiobühne oder in einem Werkraum, wie das mit zeitgenössischen Opern so häufig passiert (die Hauptbühne wird schließlich für die Publikums-affine Museumskultur des 18. und 19. Jahrhunderts benötigt!), sondern im großen Haus, mit großem Orchester und allem Drum und Dran. Und wie man von einem versierten Komponisten und laut Programmheft Schlagzeuger, Electronic Performer, Coder und Hardware-Hacker wie Felix Leuschner sowie von einem versierten Autor wie Dietmar Dath nicht anders erwarten kann, werden auf der großen Bühne große Ideen und große Fragen diskutiert. Und da die Zeiten so »scheißig« (Goethe) sind, wie sie nun einmal sind, bleibt letztlich nur eine wilde Groteske, wenn sie angemessen von einem Autor wie Dietmar Dath reflektiert werden.
Blitze flackern über die Leinwand, Donner ist erst spürbar, dann auch hörbar und entlädt sich nach durch verschiedene Taktarten changierenden Steigerungen, in denen der Komponist den Bläsern »asynchrones Atmen« und den Streichern »unregelmäßige Striche« vorschreibt, in einem dreifachen Fortissimo, zu dem sich eine vom Band kommende dumpfe Bass Drum gesellt. Unruhe, verwirrende Sounds, ein arhythmisches Auf und Ab, schließlich ein großes Glissando, die Zeit verlangsamt sich, die Menschenwelt geht in slow motion, die Blitzwelt in Normalgeschwindigkeit, so schreibt es die Partitur vor. Eine sirrende, mal hochmotorische, mal elegant dahinschlenkernde Musik hat Felix Leuschner da komponiert, eine Musik, die sich des vollen Orchesters (grandios, wie das Staatsorchester Kassel unter Francesco Angelico diese enorm schwierige Partitur meistert) sowie elektrischer Instrumente (Drum-Set, E-Gitarre, Sythesizer) und zugespielter Live-Elektronik bedient.
Wir sehen eine staatliche Ermittlung »als groteske Parabel«, wie Dramaturg Kornelius Paede in seinem instruktiven Essay im Programmheft schreibt, das Bühnenbild zitiert den Gerichtssaal des Nürnberger Prozeß, und im abstrahierten Raum schwebt auch »Die Ermittlung« von Peter Weiss – alles ein banales Archiv eines ungeheuren Geschehens. Die grandiosen TänzerInnen von TANZ_KASSEL (allen voran Beatrice leni und Iris Posthumus) führen abenteuerliche Verrenkungen auf, die aber natürlich von den unsichtbaren Verrenkungen der staatlichen Ermittler noch übertroffen werden, die etwas herausbekommen wollen/sollen, aber natürlich nichts herausbekommen sollen/wollen. Wird hierzulande dem System und dem Kapitalismus der Prozeß gemacht, kann dies nur als Farce enden. Viel geduldiges Papier liegt durcheinander auf dem Boden, wird mal ein bisschen aufgewühlt, ohne dass etwas passiert – im Hintergrund fegt eine Reinigungskraft stoisch das Papier weg, es wird nichts herauskommen, alle Recherchen sind vergebens.
Der Geldspielr wird von Regisseurin Florentine Klepper als eine Art Elon Musk angelegt. Seine öffentliche Person verwertet sämtliche Inhalte als Content, und seine Schwächen und Skandale werden zum Teil einer einzigen gigantomanischen Erfolgserzählung, egal ob er ins Weltall fliegen lässt, Gewerkschaften verhindert, Beschäftigte ausbeutet oder massenhaft entlässt oder Twitter zu einer Art privatem Playmobil degenerieren lässt. Was ist sein Ziel? »Ein Auto, das noch elektrischer ist als das elektrische Auto?« Was hat der Staat, was hat die Gesellschaft da überhaupt noch zu melden? Die Ermittlerin, »die Doofe vom Staat«, tüchtig und beseelt zum Geldspielr Musk: »Sie stehen nicht überm Gesetz! Wenn ich diese Zustände beim Staat berichte, wird man Sie zur Räson bringen!« Darauf der Geldspielr: »Wenn ich auf mein Geld steige, kann ich den Staat da unten gar nicht mehr erkennen.« Aber wer sich nun an Musk abarbeiten möchte, ist schon auf die Oper, also aufs System reingefallen – besser mal bei Karl Marx nachschlagen unter dem Stichwort »Charaktermasken«, denn auch üble Personen wie Elon Musk sind letztlich nur »Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen«.
Der Geldspielr lässt im Keller Doktor Elektro an den Blitzen forschen, sein Interesse gilt den »Leadern«, wie in der Physik die Leitblitze genannt werden, die den dünnen, ionisierten Kanal hinterlassen, der kaum sichtbar ist und später vom Hauptblitz genutzt wird. »Ein Leader führt, zum Beispiel die Geschäfte. Deshalb verstehen wir uns, ich und die Blitze!« Und der Geldspielr tanzt die Rumba: »Der Blitz fährt in die Glieder, der Führer ist der Leader!« Die Ermittlerin sieht sich diese Performance spürbar irritiert an und fragt, was die »Shareholder, Aufsichtsrätinnen und Controller« wohl dazu sagen würden. Der Geldspielr lakonisch: »Dasselbe wie immer: Mäh, Muh und Meck.«
Der Geldspielr zitiert Deng Xiaoping, »in Zukunft wird es immer schwieriger, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit zu unterscheiden«, und prompt folgert die Ermittlerin (toll, wie Mengqi Zhang und Clara Soyoung Lee diese Zwillingsfigur aufführen): »Sie arbeiten also für die Chinesen!« Dann erwähnt der Geldspielr Hegel, und die Ermittlerin meint, er wolle also »den deutschen Staat unterwandern, mit Sprüchen und Intrigen! Alle hängen mit drin!« Sie listet auf: Von Airbus, BMW, BASF, Continental und Daimler über Kraus-Maffei, Karstadt, Lufthansa oder Thyssenkrupp bis hin zu Haribo, Lidl, FAZ, Bild, ZDF, ARD und Ritter Sport – der »deutsche Staat« soll gejagt, »die Regierung gekauft« werden! Die Ermittlerin ist etwas ganz Großem auf der Spur…
Kassel hatte im NS-Staat die Rolle der »NS-Waffenschmiede« übernommen, hier wurden (und werden) unter anderem Panzer (heute Rheinmetall Landsysteme GmbH), Wehrmachts-LKWs (heute Mercedes-Benz-Werk) und Flugmotoren (heute Volkswagenwerk) produziert. In alliierten Luftangriffen wurden die Rüstungsfabriken und 80 Prozent der Wohnhäuser zerstört. Der Wiederaufbau wurde nach Plänen umgesetzt, die aus der NS-Zeit stammten. Der Ort der documenta also »boomt in diesem Jahr sicherlich auch durch die noch praller gefüllten Auftragsbücher der lokalen Panzerfabrikanten Rheinmetall und Krauss-Maffei Wegmann«, schreibt Paede. »Was treiben Sie mit ihrem Geld?«, wird in der Oper immer wieder gefragt.
Zunehmend wird die Bewaffnete zur zentralen Figur der Oper. Caroline Melzer bewältigt diese schwierige Rolle schauspielerisch und gesanglich exzellent; immer wieder werden von ihr klirrend scharfe Höhen gefordert oder Gutturalgesang und lang angehaltene Orgelpunkte. Eine tolle Sopranrolle hat Leuschner da komponiert zwischen Sopran und Death Metal. Im Zwiegespräch mit dem Adler konstatiert sie ihre Rolle als Söldnerin (und unsere Rolle als Mitmacher:innen des Systems): »Wir sind wie Mäuse. Der Vogel muss uns jagen. Das ist das Schicksal. Mehr gibt es nicht zu sagen. Der Vogel hält uns. Wir werden nicht tief fallen. Die Welt gefällt uns. Wir wohnen zwischen Krallen.«
Der Adler ist die ominöse, rätselhafte Figur in diesem Spiel: Bedrohlich hängt er riesengroß auf der Bühne, eine Ikone der Herrschaft vom alten Rom bis hin zu Reichs- und Bundesadler. Er spricht bei Leuschner/Dath mit der Stimme eines Kollektivs (ein Sprechchor aus Samples der Beteiligten an dieser Produktion), bleibt rätselhaft, nicht zuletzt, als er die Bewaffnete auffordert, ihren Chef, den Geldspielr, zu töten: »Du sollst ihn schneller töten. Du sollst ihn besser töten.«
Im zweiten Akt (würde man in der traditionellen Oper sagen, bei Dath und Leuschner ist es eher ein weiterer Loop) kommen der Apo-Veteran, Kommunarde und spätere Esoteriker Rainer Langhans mit seinen zwei schönen Models, den Zwillingsschwestern Gisela Getty und Jutta Winkelmann (die im realen Leben in Kassel geboren wurden, hier dargestellt von den bereits erwähnten Tänzerinnen leni und Posthumus), auf die Bühne – ein brillanter Regieeinfall, weil Florentine Klepper so die zunehmend durchgeknallte Blitzerforschung, die in einem gigantischen Vernetzungsversuch des Doktors mit Menschen, Blitzen und Personal Computern mündet, von den 68ern herleitet (bekanntlich fußt auch die »kalifornische Ideologie« des Sillicon Valley auf den Hippies, die sich von der Politik ab und LSD und Computern zuwandten). Dieser an Langhans angelehnte Doktor Introelektro geriert sich als eine Art Showmaster mit Entertainment-Qualitäten, der auch schon mal – so geht das Spiel… – unliebsame Wahrheiten aufsagt (»Man produziert Lebensmittel, die Leute vergiften, Fahrzeuge, die Leute plattrollen, Spielzeug, das Leute blödmacht«), sich in Talkshow-Floskeln ergeht (»Es ist sehr schwierig, diese Ordnung zu beschreiben«), sich jedoch verdünnisiert, als herauskommt, dass seine Blitztürme unters Kriegswaffenkontrollgesetz fallen. Ein eitler Geck, ein auf seinen Nutzen ausgerichteter Allesmitmacher, der schließlich nach Aufforderung durch den Adler die Bewaffnete erschießt – »vorhersehbarer als Menschen ist gar nichts«, meint der Adler trocken.
Im letzten Teil tritt ein monströses, an David Bowie oder auch an Madonna erinnerndes Monster auf, mit gekreuzten Gewehren, die wie Luxusdesign glitzern und auf denen Gitarre gespielt wird, in einem Kostüm mit Bling-Bling-Strass (aber wie aus ganz vielen Reißzwecken gefertigt) und mit einer von David LaChapelle inspirierten Friisur (die großartigen Kostüme stammen von Miriam Grimm) – ein starkes Bild zu dem Point of no Return, mit dem die Oper endet; zu hören ist hier ein Mezzosopran, der über zwei Oktaven heruntergepitched wird, wodurch zauberhafte Drones entstehen – wenn diese tiefen Töne verklingen, bleibt ein Mosaik von Obertönen im Raum stehen.
Der Geldspielr hat bereits in einer an Bertolt Brecht und Kurt Weill erinnernden, absurden Moritat geunkt: »Um ein Wort von einem Häuptling abzuwandeln:/ Diese Erde lässt sich kaum noch groß verschandeln./ Sie ist fast schon so verschandelt, wie’s nur geht./ Neue Schandeleien kommen längst zu spät.«
Und was bleibt den ZuschauerInnen? Klassenkampf, »wo die Klassen einander zwar bekämpfen, aber dabei auch ihre Welt so machen, wie sie ist«? Auf die Fehler im System hoffen, auf die wir dann bauen könnten? Der Bewaffneten folgen – »über Waffen lästern nur Leute, die wollen, dass andere für sie kämpfen«? Oder weiter gemütlich und gleichzeitig verzweifelt zwischen den Krallen leben? Die Versuchsanordnung, die Dietmar Dath hier gewählt hat, ist auch eine Handlungsanweisung oder zumindest eine Aufforderung, darüber nachzudenken, was die kapitalistische Welt im Inneren zusammenhält: »Was treibt Ihr Geld hier mit Ihnen?« bleibt die große Frage, mit der die Oper endet.
»Einbruch mehrerer Dunkelheiten« ist eine große absurde Oper, ein melancholisches und gleichzeitig vergnügliches fantastisches Spektakel – eine Art aktuelles »Le Grand Macabre« (an diese 1978 uraufgeführte Oper von Ligeti habe ich immer wieder denken müssen). Felix Leuschners mal von Bernd Alois Zimmermann und dessen Klangschichtungen, mal von Jazz und Subkultur im Gefolge von Ernst Krenek, mal von Ligeti oder Weill inspirierte Musik ist von großer sinnlicher Kraft. Sie ist raffiniert durchkonstruiert, aber ganz im Sinne Alban Bergs, der gemeint hat, dass man das Konstruierte einer Oper nicht anmerken darf. Eine spannende, zupackende und irisierende Komposition. Wir werden dafür ohne den Begriff Schönheit nicht auskommen.
Einbruch mehrerer Dunkelheiten. Oper von Felix Leuschner mit einem Text von Dietmar Dath. Staatstheater Kassel. Weitere Aufführungen: 11., 17. und 25. Juni sowie 1., 3., 10., 13. und 15. Juli.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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