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Rückschlag für Gewaltopfer
Russisches Komitee gegen Folter hat sich aufgelöst und sucht nach Neuanfang
Der Druck auf die russische Zivilgesellschaft wächst. Am 10. Juni erklärte das Justizministerium das Komitee gegen Folter zum »ausländischen Agenten«. Nur einen Tag später löste sich die Organisation, die Opfern von Folter in Russlands Gefängnissen juristisch unterstützt, auf.
Wirklich überraschend sei die Entscheidung nicht gekommen, sagt Pjotr Chromow im Gespräch mit dem »nd«. Der Anwalt war viele Jahre für das Komitee aktiv. Bereits 2015 und 2016 wurden Vorgängerorganisationen als »ausländischer Agent« eingestuft. Trotz dieser Rückschläge fanden die Jurist*innen Möglichkeiten, ihre Arbeit fortzusetzen, indem sie etwa nur noch als Vereinigung auftraten, die die Rechte von Folteropfern vertreten.
Der Krieg in der Ukraine wirkte sich zunächst nur wenig auf das Komitee gegen Folter aus. Bei den Massenprotesten im Februar und März wandten sich viele Opfer von Polizeigewalt an die Jurist*innen. Die Organisation selbst wurde aber von den Behörden in Ruhe gelassen. Dennoch habe man die Entscheidung vom 10. Juni lange erwartet. Jeden Freitag habe man geschaut, ob man zum »ausländischen Agenten« deklariert wird, blickt Chromow zurück.
Die Selbstauflösung nur einen Tag später kam durchaus überraschend. Andere Organisationen wie OVD-Info sind trotz der Einstufung weiterhin aktiv. Für das Kollektiv des Komitees gegen Folter war dies keine Option, einstimmig wurde das Ende beschlossen. »Wir wollen nicht weiterarbeiten und dabei das Label ‚ausländischer Agent‘ tragen. Wir halten diese Bezeichnung für eine Beleidigung und Diffamierung«, schrieb der Vorsitzende, Sergei Babinez, auf Facebook. Chromow erklärt den Schritt damit, dass die Einstufung dieses Mal anders sei als 2015 und 2016. Damals betraf es nur die Organisation selbst, die sich in allen Publikationen und bei allen Auftritten als »ausländischer Agent« markieren und Bildungskooperationen kündigen musste. Dieses Mal, so Chromow, sei es schlimmer. Denn die Einstufung betrifft auch alle Mitstreiter*innen. Im Klartext bedeutet das, dass selbst Aussagen in sozialen Netzwerken mit einem Hinweis auf den Status als »ausländischer Agent« versehen sein müssen. Unter den aktuellen Umständen Kläger vor Gericht vernünftig zu verteidigen, sei nicht mehr möglich. Chromow spricht von einem Ungleichgewicht gegenüber der Anklage. Dabei wolle man nur Gerechtigkeit. »Wir sind nicht gegen den Staat. Der soll einfach nur ordentlich arbeiten«, betont der Anwalt.
Seit seiner Gründung 2000 verstand sich das Komitee gegen Folter als Organisation, die ausschließlich juristische Hilfe anbietet. Im Februar kam es zum Streit innerhalb des Komitees, als der damalige Vorsitzende, Igor Kapljapin, seine Mitstreiter*innen aufforderte, sich auch gesellschaftspolitisch zu engagieren. Nachdem sein Plan keine Unterstützung fand, verließ er das Komitee.
Zum Zeitpunkt der Selbstauflösung arbeiteten die Jurist*innen an 188 Verfahren, Chromow selbst an 13. Dass es das Komitee nicht mehr gibt, ändere nichts daran, dass sie die Opfer vor Gericht vertreten, so Chromow. Zudem werden andere Organisationen wie Agora oder engagierte Anwält*innen sich um die Folteropfer kümmern. Chromow selbst will seine Arbeit fortsetzen. Und er glaubt, dass das Komitee bald zurückkommen wird. »Wir finden eine Form, um weiterzumachen«, gibt er sich kämpferisch. Letztendlich gehe es um die Frage, wer das russische Gesetz besser verstehe, das Justizministerium oder das Komitee gegen Folter, meint Chromow. »Da glaube ich an uns«.
Am Mittwoch entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das Gesetz über »ausländische Agenten« einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention darstellt. Geklagt hatten 73 russische Organisationen, darunter auch das Komitee gegen Folter. Bei dem Verfahren ging es um die Einstufung des Komitees im Jahr 2015. Der russische Staat muss den Beschwerdeführern insgesamt 1,02 Millionen Euro Schadensersatz setzen. Am Sonnabend unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz, nach dem Russland die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht mehr umsetzt.
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