Die fast finale Niederlage

Was die Linkspartei aus dem misslungenen Bundestagswahlkampf des vergangenen Jahres lernen sollte

  • Janis Ehling
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Wahlniederlage der Linken im vergangenen September ist bis heute weder vollständig aufgearbeitet und noch weniger verarbeitet. Das ist zu wenig für eine Partei, die kurz vor ihrem Untergang stand. Ein Ausscheiden aus dem Bundestag hätte die Partei Die Linke kaum verkraftet. Eine Bundestagswahl ist die zentrale politische Kampagne einer Partei, mit der sie ihre Forderungen allen Menschen im Land bekannt macht. Funktioniert diese zentrale Kampagne nicht, macht eine Partei etwas grundsätzlich falsch. Der Wahlkampf mag nur für einen Bruchteil der Niederlage verantwortlich sein – über den Zustand einer Partei lässt sich daraus viel ableiten.

Vor der Chronologie: Die Hauptgründe für die Niederlage

Janis Ehling

Janis Ehling war drei Jahre Bundesgeschäftsführer des Studierendenverbandes Die Linke.SDS. Derzeit gehört er dem Parteivorstand der Linken an. Der Vorstand wird auf dem anstehenden Erfurter Parteitag neu gewählt. Ehling war der erste Bewerber für das Amt des Linke-Bundesgeschäftsführers; inzwischen gibt es drei weitere Kandidaturen. In dem hier veröffentlichten Text unterzieht er den letzten Bundestagswahlkampf der Partei einer kritischen Bestandsaufnahme. Die Bundestagswahl 2021 war Ausdruck und auch Katalysator der Linke-Krise. Eine Langfassung seiner Analyse findet sich auf links-bewegt.de.

Seit 2010 bestimmen soziale Themen nicht mehr die öffentliche politische Agenda. Stattdessen sind Themen wie Ökologie, Migration und Identität/Emanzipation wichtiger geworden. Die Linke hatte als Gesamtpartei dazu nie eindeutige und häufig sogar viele verschiedene Antworten. Seit 2015 gab der Parteivorstand um die Vorsitzenden die eine Antwort und die Bundestagsfraktion mit deren Vorsitzenden eine gegenteilige. Hinzu kommt: In den letzten Jahren haben sich SPD und Grüne, die Anfang des Jahrtausends offen neoliberal waren, etwas gewandelt und konkurrieren nun wieder mit der Linken in ihrem sozialen Kerngebiet. Das ist ein schwieriges Fahrwasser für eine linke Partei.

Die Stammwählerschaft der Partei im Osten schrumpft seit Anfang 2000 und ein Teil der vormaligen Wählerschaft aus den unteren Klassen geht nicht mehr wählen. Die PDS war ein Generationenprojekt ohne Nachwuchs. Nun stirbt die tragende Generation der PDS und mit ihr weite Teile der Partei im Osten aus. Die neuen Teile der Wählerschaft sind überwiegend jünger, weiblicher und aus den größeren Städten. Sie entscheiden sich anders als die alte Stammwählerschaft taktisch zwischen SPD, Grünen und Linkspartei. Dieses Mal wollten sie vor allem einen erneuten Kanzler der CDU verhindern. Die Nachwahlbefragungen zeigten das deutlich: Mehr als die Hälfte der SPD-Wählerschaft hat sich nur wegen der Kanzlerwahl für die SPD entschieden.

Neben diesen Trends kam die Coronakrise hinzu, in der die Partei mit ihrem Drängen auf eine sozialere Ausgestaltung der Maßnahmen und Verbesserungen im Gesundheitssystem kaum durchdrang. Als Partei mit besonders aktiver Mitgliedschaft wurde sie von den Kontaktbeschränkungen von allen Parteien am härtesten getroffen. Sie lebt von Kontakten, Versammlungen und Aktionen und kann nicht auf dieselbe mediale Sympathie wie andere Parteien bauen.

Der Februar-Parteitag

Aufgrund der Coronakrise wurde der Bundesparteitag zweimal vertagt. Der Parteivorstand war zu diesem Zeitpunkt ein Jahr länger im Amt als üblich. Um das nicht noch weiter zu verlängern, fand der Parteitag im Februar 2021 erstmals online statt. Er erschien als Chance für eine Erneuerung. Der Vorstand erneuerte sich, neben der gewohnt starken Repräsentanz des Reformerflügels, vor allem auf dem linken Flügel. Der Wagenknecht-Flügel war auf dem Parteitag kaum präsent und schnitt schwach ab zugunsten vieler jüngerer Kandidat*nnen der Bewegungslinken. Der Bundesparteitag selbst wurde hervorragend organisiert, band aber erhebliche Ressourcen des Karl-Liebknecht-Hauses.

Die neue Parteispitze und ein sehr kurzer Aufbruch

Mit Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow wählten die Delegierten die beiden profiliertesten Landespolitikerinnen der Linken als Vorsitzende. Mit der Neuwahl wurde ein Aufbruch ausgerufen. Vielmehr als ein kleiner Hoffnungsschimmer war dies aber nicht. Bald kamen die Wahlniederlagen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Auch war der Führungswechsel vor allem organisatorisch problematisch, denn er unterbrach die Wahlkampfvorbereitungen und band massiv Ressourcen.

Mitten in die Diskussion um das Wahlprogramm platzte im April 2021 das Buch »Die Selbstgerechten« von Sahra Wagenknecht. Es reaktivierte sofort die bekannten innerparteilichen Kämpfe um die »richtigen und falschen Milieus«. Dieser Streit beschäftigte die Partei weitere zwei Monate. In den wesentlichen gesellschaftlichen Fragen stand die Partei wieder mal als gespalten dar beziehungsweise attestierte ihr ihre prominenteste Politikerin ein Komplettversagen in ihrem ureigensten Feld.

Der Weg zur Bundestagswahl – die Nominierung der SpitzenkandidatInnen

Dies ermöglichte zumindest etwas, was der Linken meist nicht gelingt: die relativ geräuschlose Verständigung von Partei und Fraktion im Mai auf die Spitzenkandidat*nnen Dietmar Bartsch und Janine Wissler. Doch auch das hatte einen Haken: Normalerweise markiert spätestens die Wahl der Spitzenkandidat*nnen den Start des Wahlkampfs einer Partei. Doch nach ihrer Nominierung passierte erstmals: nichts. In der Außenkommunikation von Partei und Fraktion spielte die Nominierung so gut wie keine Rolle, ebenso nicht im Wahlkampf-Koordinierungsrat und im Wahlstab, die es seit Sommer 2020 gab.

Der Wahlprogrammparteitag

Das Wahlprogramm wurde in so kurzer Zeit erarbeitet wie nie zuvor. Dem neuen Parteivorstand blieben kaum zwei Monate für einen Vorschlag und die Einarbeitung der fast 1200 Änderungsanträge. Die großen Konflikte spielten in der Erarbeitung ebenso wenig eine Rolle wie auf dem Parteitag selbst. Stattdessen waren ökologische Themen in der Diskussion präsent – unter anderem weil die meisten anderen Vorschläge übernommen wurden. Das Wahlprogramm wurde dann mit nur wenigen Gegenstimmen verabschiedet. In der Pandemie setzte Die Linke auf eine Stärkung der Pflege, einen höheren Mindestlohn, eine Absicherung der Renten und natürlich Frieden. Alles wichtige Themen, die in der Öffentlichkeit aber kaum eine Rolle spielten und fast ebenso in den Programmen von SPD und Grünen standen.

Bis zum Wahltag war unklar, wie Die Linke mit ihren sozialen Kernbotschaften durchdringen sollte. In der Nachwahlbefragung bewerteten die Wählerinnen und Wähler soziale Gerechtigkeit als Hauptgrund für ihre Wahlentscheidung. Offenbar verknüpften sie das aber kaum mit der Linken oder trauten die Durchsetzung eher Grünen und SPD zu. Gleichzeitig drangen die neuen ökologischen Inhalte nicht durch. Die ökologische Kompetenz wurde eindeutig den Grünen zugeschrieben. Ohne eigenes Wording und das Setzen von einfachen und verständlichen Frames hatte es auch von vornherein keine Chance. Zu keinem Zeitpunkt wurde versucht, das Programm in wenige greifbare Sätze zu übersetzen. Formulierungen wie »sozialökologischer Umbau« oder »soziale Frage« sind Parteisprech und für den Wahlkampf untauglich.

Letzte Wahlkampfvorbereitungen

Ein übergeordnetes Kampagnenteam, das die komplette Verantwortung für den Wahlkampf trug, gab es nicht. Neben dem Wahlstab und dem Wahlkampfkoordinierungsrat entschied vor allem die »Sechserrunde« aus Partei- und Fraktionsvorsitzenden sowie den jeweiligen Geschäftsführern viele wesentliche Fragen. Das Fehlen eines strategischen Zentrums, das im Fall der Fälle das Vertrauen der gesamten Partei hat, machte sich hier besonders schmerzlich bemerkbar. Der Wahlkampf blieb so vielfach Stückwerk.

Erst ab dem 20. Juli nahm der Wahlkampf auf den Social-Media-Seiten der Partei langsam Fahrt auf. Die Koordination mit der langjährigen Agentur für den Wahlkampf funktionierte schlecht. Die Plakate und Materialien waren vielfach zu spät in den Landes- und Kreisverbänden. Manche Materialien kamen erst Anfang September vor Ort an. Auf neuen Plattformen wie TikTok war die Partei aufgrund der Unterbesetzung im Öffentlichkeitsarbeitsbereich nicht vertreten. Immerhin bei den Haustürgesprächen schaffte die Partei mit 221000 Haustüren einen neuen Rekord. Während über dieses effektivste Wahlkampfmittel in der Partei noch gestritten wurde, stellte die SPD mit drei Millionen-Haustürbesuchen pragmatisch einen Rekord auf.

Der Wahlkampfbeginn und die realen Forderungen

Sechs Wochen vor der Wahl eröffneten Janine Wissler und Dietmar Bartsch den Wahlkampf offiziell mit der Enthüllung der Plakate. Schon dieser Wahlkampfauftakt ging medial unter. Die Plakate waren zumindest solide und kommunizierten die altbekannten Parteiforderungen. Statt des beschlossenen Wahlprogramms mit sozialökologischem Fokus beschränkte sich der Wahlkampf meist ganz auf Themen der sozialen Gerechtigkeit. In Zeiten der Parteikrise sollten die alten Evergreens zumindest die Verluste in Grenzen halten.

Immerhin wurden die öffentlichen Veranstaltungen solide bespielt. Ein wenig Aufatmen brachte auch der öffentlich zelebrierte Waffenstillstand am 25. August zwischen Wagenknecht/Lafontaine und Susanne Hennig-Wellsow bei einem gemeinsamen Wahlkampfauftritt in Weimar. Und zumindest bei Janine Wissler waren die Veranstaltungen deutlich besser besucht als erwartet. Eine der wenigen positiven Ausnahmen des Wahlkampfes neben ihrem unbestreitbaren medialen Talent.

Ansonsten lief der Wahlkampf vielerorts schwer an. Insgesamt war die freiwillige Beteiligung am Wahlkampf deutlich niedriger als sonst. Und selbst auf der Aktiven- und Funktionärsebene herrschte meist Dienst nach Vorschrift. Die wichtigsten Zutaten fehlten: Vertrauen in die eigene Sache, Motivation und Teamgeist. Der Kommunalwahltermin in Niedersachsen zwei Wochen vor der Wahl spielte im Kampagnenplan der Partei – anders als etwa bei den Grünen, die ihren Wahlkampfauftakt direkt nach Niedersachsen verlegten – keine Rolle.

Ein Wahlkampfgeschenk, dass vom Segen zum Fluch wurde

Nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan waren die Taliban seit dem Frühjahr auf dem Vormarsch. Sie standen wieder da, wo sie vor der Nato-Intervention 2001 waren: an der Macht. Das unterstrich noch einmal die völlige Sinnlosigkeit des Afghanistan-Einsatzes. Die LinkeE war die einzige Partei, die immer gegen diesen Krieg gestimmt hat. Trotzdem geriet die letzte Mandatierung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan nur für Die Linke zum Fiasko. Der Parteivorstand verständigte sich in seiner Beratung auf eine Enthaltung. Die Enthaltung sollte symbolisch ausdrücken, dass Die Linke weder das Evakuierungsdebakel noch das Mandat zum Kampfeinsatz goutieren wollte. Die Abstimmung des Parteivorstandes wurde auf Bitten der Fraktionsvorsitzenden nicht kommuniziert, um eine möglichst geschlossene Abstimmung in der Fraktion nicht zu gefährden. In der Fraktionssitzung kündigten dann mehrere Abgeordnete an, trotzdem mit Nein zu stimmen und andere mit Ja. Die mehrheitliche Enthaltung der Bundestagsabgeordneten versuchte die Fraktion anschließend öffentlich zu verstecken. Das Ergebnis war ein Kommunikationsgau. In den Augen der Öffentlichkeit hatte Die Linke sich gegen die Evakuierung ausgesprochen. SPD und Grüne nutzten die Steilvorlage und schossen sich auf die Unzuverlässigkeit der Linken in außenpolitischen Fragen ein.

Fazit: Die Niederlage verarbeiten

Am Wahltag ist Die Linke knapp der Katastrophe entronnen. Der politische Trend der letzten Jahre arbeitete ihr nicht unbedingt zu. Gegen den Trend kann sie aus eigener Kraft heraus keine Wunder bewirken, aber sie muss die Punkte angehen, die sie beeinflussen kann.

Wenn eine Partei gehört werden will, muss sie mit einer Stimme sprechen. Das gilt für eine 4,9-Prozent- noch mehr als für eine 9,2-Prozent-Partei. Entscheidende Fragen müssen geklärt werden und sei es durch schmerzhafte Kompromisse. Das Gegeneinander zwischen Partei und Fraktion muss aufhören. Die zentralen Aussagen zu den wichtigsten Themen vom Klimawandel bis zum Mindestlohn müssen klar sein. Dazu gehört auch, Programmprozesse lange anzulegen und die Mitglieder einzubeziehen. Beschlüsse und Programme müssen gelten, sonst kann man sich den riesigen Prozess sparen. Ein detailliertes Programm ersetzt aber nicht seine Bewerbung und Popularisierung. Alles Gerede vom sozialökologischen Umbau nützt nichts, wenn es nicht mal die eigenen Mitglieder verstehen. Politisches Framing, also ein Erzählungs- und Deutungsmuster, ist unerlässlich. Dazu braucht es eine kampagnenmäßige Kommunikation.

Im Wahlkampfjahr ist ein Mindestmaß an Einigkeit notwendig. Wer diese Parteidisziplin nicht aufweist, schadet der Partei. Diskussion und Streit sind für eine linke Partei Lebenselixier, Querschüsse während der zentralen Kampagne der Partei sind aber nichts weniger als Sabotage. Das kann sich keine Partei gefallen lassen. Führungspositionen und Mandate sind mit Prestige, hohen Gehältern und vielem mehr verbunden. Folglich können die Mitglieder dafür ein Handeln zum Wohle ihrer Partei von allen ihren Vertreter*nnen erwarten.

Und zuguterletzt: Ein Wahlkampf kann noch so gut geplant sein – wenn es keine legitimierten Entscheidungsstrukturen im Wahlkampf gibt, nützen alle Pläne nichts. Klare Strukturen sind das A und O. Die Vorbereitung der Europawahl 2024 und der Bundestagswahl 2025 beginnt jetzt. Die Linke sitzt auf Bewährung im Bundestag und muss ihre Wahl durch gute Oppositionsarbeit rechtfertigen. Alle unangenehmen und kontroversen Klärungsprozesse im Vorlauf dieser nächsten großen Wahlen muss die Partei so früh wie möglich angehen, um sich gut aufzustellen – politisch und handwerklich.

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