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Identität als Entschuldigung

Im Zeichen kultureller Unterschiede wurde der Antisemitismus auf der Kunstschau Documenta in Kassel wieder salonfähig. Dabei kommt er keineswegs nur von außen

  • Jonathan Guggenberger
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Diskussion rund um den Antisemitismus-Skandal auf der Kasseler Ausstellungsreihe Documenta fügt sich in eine Reihe öffentlicher Debatten zu diesem Thema ein, zum Beispiel die um den abgesagten Auftritt des Philosophen Achille Mbembe auf der Ruhrtriennale oder die zum Beschluss des Bundestags, die Israel-Boykott-Kampagne BDS zu verurteilen und damit im Zusammenhang stehende Projekte nicht zu fördern. Ohne größeren Erkenntnisgewinn kreisen diese Debatten um die immer gleichen begrifflichen Pole: Antisemitismus und Rassismus. Warum sträubt sich die deutsche Öffentlichkeit weiterhin gegen Fortschritt auf diesem diskursiven Engpass?

Die Vorwürfe, Verteidigungen und vorläufigen Ergebnisse der Kasseler Auseinandersetzung um das Großgemälde »People’s Justice« sind hinlänglich bekannt. Auf dem mittlerweile abgehängten Banner ist ein Soldat mit Schweinegesicht zu sehen, der einen Davidstern und einen Helm mit der Aufschrift »Mossad« für den israelischen Auslandsgeheimdienst trägt. Eine ebenfalls eindeutig als Jude identifizierbare Figur trägt einen Hut mit SS-Runen. Trotz dieser unmissverständlich antisemitischen Darstellung wähnt sich das indonesische Kunstkollektiv Taring Padi falsch verstanden, weil sich das Kunstwerk lediglich auf den »politischen Kontext Indonesiens« beziehe. Die Debatte wird nun minütlich mit Artikeln und Tweets befeuert. Doch werden in der schon seit Januar schwelenden und seit fünf Tagen intensiv geführten Diskussion über Antisemitismus bei der Documenta kaum die ideologischen Zusammenhänge thematisiert, die das Phänomen erst hervorbringen. Um diesem Mangel entgegenzuwirken, bedarf es eines genaueren Blicks auf die Rolle, die Jüdinnen und Juden von Apologeten der antisemitischen Documenta-Kunst zugewiesen bekommen.

Jüdische Menschen sollen zumeist entweder Opfer oder imperialistische Täter sein. Das muss gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte nicht wundern: Die Debatte um die Documenta reproduziert drei für die deutsche Schuldabwehr typische Reflexe. Zum einen wird oft, insbesondere von Linken, behauptet, dass andere Teile der Gesellschaft Israel eine Sonderrolle zusprächen, die es verunmögliche, Kritik an dem Staat zu üben. Zweitens stilisierte der in der DDR zur Staatsräson geronnene Antizionismus den Staat der Shoah-Überlebenden schon früh zum kolonial-imperialistischen Außenposten des Westens. Und drittens tritt auch in der aktuellen Debatte wieder die bürgerlich-liberale Verklärung der Gegenwart (und Vergangenheit) zutage, nach dem Motto: »Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken.« (Martin Kippenberger sorgte 1984 mit einem gleichnamigen Gemälde für Diskussionen.)

Wie schon in den Debatten zuvor wird auch in der aktuellen Auseinandersetzung wie selbstverständlich auf Externalisierungen und Exotisierungen zurückgegriffen – egal, welche Haltung vertreten wird. Man spricht zum Beispiel wieder von einem »importierten Antisemitismus« und ignoriert damit, dass dieser auch eine deutsche Kontinuität ist. Die andere Seite hingegen meint, dass Antisemitismus vom »Globalen Süden« gar nicht erkannt werden könne, weil den Menschen dort die kulturelle Grundlage fehle. Das ist nicht nur paternalistisch, sondern auch rassistisch.

So entsteht ein Zerrbild, das keine Debatte auf Augenhöhe zulässt, sondern den Eindruck vermittelt, Künstlerinnen und Künstler aus anderen Teilen der Welt bräuchten Vermittlung und Schutz durch deutsche Documenta-Beteiligte. Die sollen die »Stimmen des Globalen Südens« hörbar und verständlich machen. Mit diesem Ansatz wird nicht nur ästhetische Vermittlung verunmöglicht, sondern auch die Kunstfreiheit in ihrer Bedeutung untergraben. Wo die Kunst diskursiven Austausch fordert, setzt man kurzerhand die Käseglocke kultureller Identität über alle Provokationen des politischen Verantwortungsbewusstseins.

Beispiele für diese Haltung sieht man in Teilen des deutschen Feuilletons, aber auch in den Äußerungen der Documenta-Leiterin Sabine Schormann, des Kuratorenteams Ruangrupa oder des Künstlerkollektivs Taring Padi selbst. Sie alle machen die Herkunft der Kunstproduzentinnen und-produzenten, ihre kulturelle Identität und – dem gegenübergestellt – eine in ihren Augen verkrustete, schlimmstenfalls rassistische Feinfühligkeit gegenüber Israel und israelbezogenem Antisemitismus zum eigentlichen Grund des Skandals. Mögen sich einige in Bezug auf den unleugbaren antisemitischen Gehalt der Darstellungen eher bedeckt halten, suchen andere die Flucht nach vorn. So sagte etwa der Vorsitzende des Documenta-Forums, Jörg Sperling: »Die Kunst hat ein Thema aufgebracht, das außerhalb der Kunst liegt: das Verhältnis von Palästinensern und Israelis.«

Doch warum soll dieser Gegenstand von so zentraler Bedeutung sein für eine Weltkunstschau aus der Perspektive des »Globalen Südens«? Ein Beitrag des Kunsttheoretikers Bazon Brocks im »Deutschlandfunk« und die in der »Zeit« veröffentlichte Rede der Künstlerin Hito Steyerl können bei der Beantwortung dieser Frage hilfreich sein. Brock verurteilt zu Recht den Einzug des Kulturalismus in die Kasseler Ausstellungshallen. Er beschreibt, teils etwas verkürzt, wie sich im Geiste der Autorität kultureller Kollektividentitäten der Gehalt von Kunst als Ausdruck und Einspruch des Individuums selbst erledigt. Vom Kulturalismus ist es Brock zufolge dann nur ein Katzensprung zum Antisemitismus, der in dieser Konstellation nicht allzu selten als Bindeglied kulturalistischer Kollektive fungiere.

Steyerl hingegen pocht auf die grundlegende Annahme der postkolonialen Theorie, »dass alles auf der Welt lokal situiert und historisch kontextualisiert werden muss«. Genau das sei bei der Documenta aber nicht passiert. Im Nachgang ihrer eigenen Erfahrung mit der Ausstellungsreihe stellt Steyerl fest: »Eine möglichst abstrakte Anrufung des Globalen ersetzte weitgehend eine Auseinandersetzung mit Deutschlands Gegenwart und Vergangenheit.«

Im Umfeld der diesjährigen Documenta wollte man sich »offene Diskursräume« und Diskriminierungsfreiheit auf die Fahnen schreiben, man sehnte sich nach Annäherungen zwischen Süd und Nord. Doch indem man mit den ausgestellten Werken auf jegliche Differenz von Kunst, Politik und Aktivismus verzichtete, schuf man die Bedingungen dafür, dass diese Visionen nun vom aktuellen Antisemitismus-Skandal jäh beendet wurden.

Die Reaktionen der Documenta-Beteiligten auf dieses Ende sind nun ein Beißreflex, der ironischerweise der eigenen Vorstellung von Autorität und zugesprochenem Diskursraum für von Diskriminierung Betroffene konträr entgegensteht. Jüdinnen und Juden werden als störender Sand im Getriebe einer ansonsten geglückten Documenta begriffen. Ruangrupa gehen in einem offenen Brief sogar so weit, zu behaupten, die von ihnen als Zensur und rassistische Schmierkampagne denunzierte Antisemitismuskritik »gefährde die internationale kulturelle Zusammenarbeit mit Deutschland«. Das von den Documenta-Machern diskursiv konstruierte Amalgam aus Kunst und Politik, rhetorischer Radikalität und echauffiertem Standesdünkel schließt dabei (nicht nur) jüdische und israelische Stimmen aus, die der geforderten politischen Charta nicht entsprechen. Es verzerrt ihre Kritik und die darauffolgenden Debatten als Zensur und als Unterwanderung von eigentlich rechtschaffenen Zielen. Kurzum: Man geriert sich als Opfer der »Antisemitismuskeule«.

Konsequenz dieser Debatten ist nur selten die Sanktionierung von Antisemitismus. Anders als es der BDS-Beschluss des Bundestags suggerieren mag, verlieren Antisemitismus-Apologeten und -Apolegetinnen in der deutschen Kulturlandschaft meist nicht ihre Positionen und büßen keine Förderungen ein. Trotz Rücktrittsforderungen vonseiten jüdischer Institutionen wird es auch diesmal höchstwahrscheinlich keine Folgen für die Verantwortlichen geben.

Zu jenen gehört auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen). Sie fiel vor der Enthüllung des Wandgemäldes durch ihren kulturalistisch entschuldigenden Ton auf und rühmte die »sehr provokative« Form der Kasseler Ausstellung. Als hätte es vorab keine Warnungen gegeben, zeigte sie sich nach der Enthüllung des Banners schockiert von der judenfeindlichen Motivik und begrüßte die Entfernung des Kunstwerks als »ersten Schritt«. Einmal konfrontiert mit ihrer möglichen Verantwortung, begrub sie jedwede Kritik mit dem naiv anmutenden Verweis auf »Vertrauen«, das sie als Ministerin den Kulturproduzentinnen und -produzenten entgegenbringen müsse. Mit diesem Vertrauen allerdings konnte die Verantwortung nach unten durchgereicht werden. Bequemerweise musste man sich so auch nicht mit den Geistern der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen.

Seit 1945 hieß internationale Kooperation und Wiederanschluss für Deutschland – sowohl für die BRD als auch für die DDR – immer wieder Verleugnung dessen, was auch 2022 auf der Documenta noch Anlass zur Debatte gibt: Judenfeindlichkeit. Die Leidtragenden der aktuellen Auseinandersetzung sind dabei weder der hiesige Staat noch die Kulturproduzentinnen und -produzenten des »Globalen Südens« – es sind Jüdinnen und Juden, für die die besagten Diskursräume immer enger werden. Es hilft nicht, davor die Augen zu verschließen, denn der nächste Antisemitismus-Skandal kommt bestimmt.

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