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Wunschlisten auf dem Tisch
Bereits vor Beginn seiner »Konzertierten Aktion« brachte Scholz die Sozialpartner gegen sich auf
Den großen Coup wird Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit seiner »Konzertierten Aktion« vermutlich nicht landen. Denn noch bevor er diesen Montag mit Vertreter*innen des Arbeitgeberlagers und der Gewerkschaften zusammenkommt, hat er beide Seiten bereits gegen sich aufgebracht. Stein des Anstoßes war sein durch die Medien kolportierer Vorschlag, die Gewerkschaften könnten im Gegenzug zu steuer- und sozialabgabenfreien Einmalzahlungen auf hohe prozentuale Tarifforderungen verzichten. Am Sonntag wies er jedoch zurück, so etwas je geplant zu haben.
Scholz will mit der Aktion auf die derzeit horrenden Inflationsraten reagieren. »Wichtig ist, dass die externen Schocks zu keiner dauerhaften Inflationsspirale führen. Genau daran muss uns jetzt gelegen sein, und zwar allen Verantwortlichen gemeinsam«, sagte der Kanzler etwa Ende Juni beim Tag der Industrie. Deswegen habe er Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik zur konzertierten Aktion ins Bundeskanzleramt eingeladen.
Vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamts zufolge ist die Inflationsrate zuletzt zwar leicht gesunken – von 7,9 Prozent im Mai auf 7,6 Prozent im Juni. Dennoch verteuern sich damit die Verbraucherpreise so schnell wie seit Jahrzehnten nicht mehr. »Besonders problematisch ist, dass dieser finanzielle Stress vor allem jene Haushalte mit oft ohnehin niedrigen Einkommen trifft, die bereits während der Corona-Pandemie überdurchschnittlich häufig Einkommenseinbußen hinnehmen mussten«, warnt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Gemeinsam mit ihrem Kollegen Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat Kohlrausch anlässlich der »Konzertierten Aktion« eine Kurzstudie erstellt, in der sie die aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation durchleuchten. Demnach setzt die derzeitige Rekordinflation Haushalte bis hin zu den mittleren Einkommen unter Druck, was wiederum zu einer Verunsicherung der Gesellschaft führt. So teilt ein Viertel der für die Kurzstudie befragten 6200 Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden die Befürchtung, »dass die Gesellschaft so weit auseinanderdriftet, dass sie Gefahr läuft, daran zu zerbrechen«.
Doch so einig man sich ist, dass etwas getan werden muss, weisen Arbeitgeber und Gewerkschaften den Vorschlag von Scholz mit den Einmalzahlungen als unzulässigen Eingriff in ihre Tarifautonomie von sich. Bei der konzertierten Aktion würden keine Tarifverhandlungen geführt, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger am Mittwochabend in Berlin. »Langfristig können nur höhere Entgelte und die gezielte Unterstützung von Menschen ohne Arbeit sinnvolle Instrumente gegen höhere Lebenshaltungskosten sein«, formulierte DGB-Chefin Yasmin Fahimi Anfang vergangener Woche gegenüber der »Rheinischen Post« die Ablehnung der Gewerkschaften.
So sieht auch IMK-Chef Dullien das Risiko, dass durch den Anreiz zu Einmalzahlungen statt dauerhafter Lohnerhöhungen die Tabellenanstiege zu gering ausfallen und deutlich hinter den Preissteigerungen zurückbleiben. »Dies könnte eine Bugwelle an Nachholbedarf erzeugen, der sich in der Notwendigkeit sehr hoher Lohnsteigerungen in künftigen Jahren entlädt«, schreibt Dullien zusammen mit Kohlrausch in der Kurzstudie.
Arbeitgebervertreter*innen und Gewerkschaften dürften diesen Montag ihrerseits Forderungen auf den Tisch legen und den Staat zum Handeln aufrufen. Schließlich ist wegen der infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine gestiegenen Inflation schon länger ein drittes Entlastungspaket im Gespräch. Dieses soll allerdings nach dem Willen des Bundesfinanzministers erst im nächsten Jahr kommen. »Neue Haushaltsmittel stehen in diesem Jahr nicht mehr zur Verfügung«, sagte der Christian Lindner (FDP) der »Wirtschaftswoche«.
Auf der Wunschliste des Arbeitgeberpräsidenten steht derweil ein Belastungsmoratorium für die Wirtschaft bei Sozialausgaben, Steuern oder beim Lieferkettengesetz. Für die Forschenden Kohlrausch und Dullien müssen sich hingegen weitere Maßnahmen daran messen lassen, ob sie geeignet sind, die besonders belasteten unteren und mittleren Einkommen zu unterstützen, und gleichzeitig als »sozial gerecht« wahrgenommen werden.
Allgemeine Steuersenkungen sehen Kohlrausch und Dullien deswegen kritisch. »Die Verschiebung aller Tarifeckpunkte im Umfang der Inflation würde primär Besserverdienenden zugutekommen. Diese würden sowohl in absoluten Euro-Beträgen wie auch relativ zu ihren Einkommen stärker entlastet als Geringverdienerinnen und -verdiener«, schreiben sie in Bezug auf eine in Diskussion befindliche mögliche Anpassung der Steuertarife an die Inflation. Außerdem würden all jene Haushalte leer ausgehen, die keine Einkommensteuer bezahlen. Schließlich wären die fiskalischen Kosten einer solchen Maßnahme sehr hoch.
Auch eine Mehrwertsteuersenkung halten sie nicht für zweckdienlich. Ein Problem an dem Vorschlag sei, dass nicht klar ist, in welchem Umfang der Handel die Mehrwertsteuersenkung tatsächlich auch an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergeben würde. Auch würden in Euro gerechnet Haushalte mit hohen Einkommen stärker profitieren, »da diese üblicherweise teurere Produkte kaufen und mehr konsumieren«.
Eine Anpassung des Regelsatzes für die Grundsicherung sowie staatliche Einmalzahlungen an die Haushalte würden Dullien und Kohlrausch hingegen eher empfehlen. So schreiben sie zu staatlichen Einmalzahlungen: »Ein Vorteil dieser Zahlungen ist, dass Erwerbstätige mit geringem Verdienst sowohl relativ als auch in Euro gerechnet stärker profitieren als Besserverdienende.« Auf jeden Fall sollten solche Einmalzahlungen noch einmal für jene Haushalte auf den Weg gebracht werden, die entweder bisher noch gar nicht von diesen Zahlungen profitiert haben (Rentnerinnen und Rentner, Studierende) oder rein auf Transfers angewiesen sind, empfehlen Kohlrausch und Dullien.
Eine weitere sinnvolle Maßnahme könnte laut der beiden Forschenden indes ein Gaspreisdeckel für den Grundverbrauch sein. Dieser würde die Haushalte mit Gasheizung entlasten, die gemessene Inflationsrate senken, aber gleichzeitig den Anreiz zum Energiesparen erhalten, weil der Verbrauch über dem Grundsockel weiter zum vollen Preis abgerechnet würde.
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