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»Wir brauchen Vielfalt nicht nur auf dem Platz«

DFB-Vizepräsidentin Célia Šašić über die EM der Frauen und Lösungen für strukturelle Probleme im Fußball und der Gesellschaft

  • Frank Hellmann, London
  • Lesedauer: 6 Min.
Nicole Anyomi ist nur eine von drei Spielerinnen mit Migrationshintergrund im DFB-Team.
Nicole Anyomi ist nur eine von drei Spielerinnen mit Migrationshintergrund im DFB-Team.

Welche Chancen geben Sie den deutschen Fußballerinnen für die EM in England?

INTERVIEW
Die frühere Nationalspielerin Célia Šašić spielte 111 mal für Deutschland und erzielte 63 Tore. 2009 und 2013 wurde sie Europameisterin. 2008 gewann sie Olympiabronze. Mit dem 1. FFC Frankfurt holte sie zudem den DFB-Pokal sowie die Champions League. Seit März ist sie Vizepräsidentin im Deutschen Fußball-Bund für Gleichstellung und Diversität.

Ich bin sehr gespannt, weil es ein sportlich spannendes Turnier wird. Die WM 2019 endete früher als erhofft. Durch diese negative Erfahrung ist unter den Spielerinnen und Trainerinnen ein wichtiger Prozess in Gang gekommen, der auch sichtbar ist. Gute Fußballerinnen hat Deutschland genug. Jetzt kommt es darauf an, dass sie sich schnell als Mannschaft finden. Das Testspiel gegen die Schweiz macht Mut, es hat allen gezeigt: Wir können auch Tore schießen. Während des Turniers entscheidet auch das Glück. Ich erinnere mich noch gut an 2013, da hat jeder von den Französinnen geschwärmt. Und was ist dann passiert? Sie verlieren gegen Dänemark im Viertelfinale.

Sie selbst haben mit fünf Jahren bei TuS Germania Hersel mit dem Fußball angefangen. Was haben Sie in dieser Umgebung vermittelt bekommen?

Erst einmal ein großes Gemeinschaftsgefühl. Dass jeder willkommen ist, dass jeder sich einbringen kann. In verschiedenen Funktionen, mit verschiedenen Stärken. Aber vor allem war der Fußball eine Lehre: dass man respektvoll miteinander umgeht, dass jeder in einem Sport mit einfachen Regeln erst einmal die gleichen Chancen besitzt, um sich seinen Platz zu erkämpfen. Ich habe wirklich sehr viele schöne Erinnerungen an meine erste Zeit auf einem Ascheplatz (lacht).

Wie viele Mädchen haben Anfang der 90er Jahre bei Ihnen mitgespielt?

Es gab nur Jungenmannschaften! Für mich war das ganz normal, ich hatte den gleichen Spaß am Fußball wie die Jungs. Die haben dann schnell gemerkt: Die ist sehr gut, die soll mitspielen. Wir haben ja alle im gleichen Dorf gewohnt, waren in der Grundschule in der gleichen Klasse – deshalb war es kein großes Thema, dass ich mitkicke.

Diese Verankerung an der Basis hat der Frauen- und Mädchenfußball in den vergangenen Jahren verloren. Der DFB hat von 2,2 Millionen Aktiven nur noch 187000 Frauen und Mädchen, die wirklich Fußball spielen. Die Zahl der aktiven Mädchen hat sich gegenüber 2010 sogar halbiert.

Für mich liegt der Hebel in der Infrastruktur. Mädchen brauchen einen einfachen Zugang zum Fußball. Im Allgemeinen ist der Zulauf in der Stadt teilweise sogar so groß, dass die Vereine gar nicht mehr alle aufnehmen können, während auf dem Land fünf Vereine eine Spielgemeinschaft bilden müssen.

Sie haben 2015 ihre Karriere beendet, sind danach Mutter geworden und nun seit Frühjahr dieses Jahres Vizepräsidentin im Deutschen Fußball-Bund für Gleichstellung und Diversität. Der DFB hat mit insgesamt fünf Frauen im Präsidium einen Neuanfang gestartet. Was sind Ihre ersten Erfahrungen?

Ich fühle mich in dieser Rolle ganz wohl, aber wir mussten uns alle erst einmal finden, nachdem große Teile des Präsidiums neu sind. Wir haben die ersten Präsidiumssitzungen oder eine zweitägige Klausurtagung in Dortmund hinter uns. Der Austausch ist rege. Ich finde es wichtig, dass immer mehr Frauen auch im Fußball mehr Verantwortung übernehmen. Wir haben jetzt im Präsidium eine höhere Frauenquote als in der Mitgliederstatistik. Damit ist ein Anfang gemacht, jetzt muss das nachhaltig verankert werden. Ich stehe dafür ein, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen im DFB vertreten sehen.

Was würden Sie als wichtigste Aufgabe bezeichnen?

Zuerst Strukturen schaffen, um unsere Ziele zu erreichen. Ich kann nur erneut betonen: Vielfalt ist die Lebensrealität in jeglichen Bereichen in unserer Gesellschaft – und das möchte ich im deutschen Fußball nicht nur auf dem Platz umsetzen, sondern auch drumherum.

Es gelingt aber kaum, Spielerinnen mit Migrationshintergrund zu gewinnen. Das Frauen-Nationalteam ist weit weniger bunt als die Männer-Mannschaft. Nur drei von 23 aus dem EM-Kader besitzen ausländische Wurzeln.

Mädchen finden kaum mehr Vereine, die rein weibliche Teams anbieten, ohne dafür mittlerweile eine Stunde fahren zu müssen. Dann benötigen sie Personen, die sie dorthin bringen und abends auch sicher wieder zurückbringen.

Spielen die kulturellen Vorbehalte in den Familien nicht auch eine Rolle? Manche Väter wollen bis heute nicht, dass ihre Tochter Fußball spielt.

Das gibt es, und das gab es schon zu meiner Zeit. Wenn kulturelle Grenzen überwunden werden sollen, muss der Institution Verein vertraut werden. Ich habe gerade wieder eine Veranstaltung in Frankfurt zur Stärkung des Ehrenamts besucht: Die Klubs wissen am besten, dass kulturelle Vielfalt nicht ein Problem ist, sondern unsere Lebensrealität ist. Wenn sich aber gesellschaftliches Zusammenleben in den Vereinen widerspiegeln soll, müssen verbindende Elemente geschaffen werden.

Aber wie? Die Vereine können aber nicht an der Haustür klopfen und die Mädchen abholen, oder?

Wir können nicht verschweigen, dass es immer noch Vorbehalte gibt gegenüber Frauen und Mädchen, die Fußball spielen. Also müssen die Eltern aus solchen Familien das Gefühl bekommen, dass ihre Tochter im Verein gut aufgehoben ist. Dafür brauchen wir Menschen, die so etwas leisten. Das sind in der Regel Ehrenamtliche, die ein unglaublicher Schatz sind, weil sie eine Sozialarbeit leisten, über die kaum gesprochen wird. Was sie den Kindern bei der Persönlichkeitsentwicklung mitgeben, kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Das ist die beste Integration.

Haben Sie Ihren aus Kamerun stammenden Vater anfangs überzeugen müssen, Fußball zu spielen?

Ganz am Anfang, so ist zumindest meine Erinnerung, hat er nicht Hurra geschrien (lacht). Da hatte er sich für ein Mädchen auch was anderes vorgestellt. Aber die Legende besagt, dass ich schon in jungen Jahren meinen Kopf durchgesetzt habe (lacht lauter). Und als er gemerkt hat, die spielt wirklich gut und geht darin richtig auf, wurden meine Eltern zu meinen größten Unterstützern. Sie haben mich wirklich überall hingefahren und begleitet.

Sie sind auch Botschafterin für die EM 2024 der Männer in Deutschland und spielen sich mit Turnierchef Philipp Lahm gekonnt die Bälle zu.

Seit der Bewerbungsphase haben wir uns als Team gefunden, weil uns beiden die gesellschaftlichen Themen rund um den Fußball wichtig sind. Wir sind davon überzeugt, dass die Europameisterschaft 2024 das Gemeinschaftsgefühl in Deutschland wieder stärken kann.

Und wie hilft das dem Frauenfußball?

Der Fußball ist ja vielfältig, Frauen und Mädchen werden auch diese EM gucken und auch diese besondere Kraft spüren. Ich sage immer: Philipp hat die Champions League gewonnen, ich habe sie gewonnen. Aber ich lege die Hand dafür ins Feuer, dass das Glücksgefühl danach bei uns beiden das gleiche war. Wir müssen den Fußball einfach ganzheitlich betrachten.

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