Vom Sommer in die Traufe?

Politiker aus Berlin und Brandenburg sowie Fahrgast- und Umweltverbände wollen den Erfolg des 9-Euro-Tickets verstetigen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Berlins Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) ist Feuer und Flamme für das 9-Euro-Ticket. »Das ist meiner Meinung nach die erfolgreichste Maßnahme von allen in den bisherigen Entlastungspaketen der Bundesregierung und die einzige, die ganz zweifellos auch wirklich bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen ist. Im Unterschied zum Tankrabatt«, hatte sie am Donnerstag auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg gesagt. Seit Juni und noch bis einschließlich August gibt es die bundesweit im Nah- und Regionalverkehr gültige Monatskarte zum Schlagerpreis von neun Euro. Rund zwei Millionen verkaufte Tickets allein bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) und der S-Bahn Berlin meldete Ende Juni der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg.

Der Fahrgastzuspruch ist deutlich. »Wir liegen mit 95 Prozent aktuell fast wieder auf dem Vor-Corona-Niveau. Gegenüber dem Mai ist die Nachfrage um zehn Prozentpunkte gestiegen. Die Menschen fahren mehr Bahn, der Trend zeigt klar nach oben«, sagte S-Bahn-Chef Peter Buchner Ende Juni. Die BVG meldete ähnliche Zahlen. »Ich freue mich sehr darüber, dass es viele Leute sind, die sagen, sie sind vorher nur mit dem Auto unterwegs gewesen«, sagt Mobilitätssenatorin Jarasch über die Käuferinnen und Käufer des Tickets. »Zu meiner Überraschung macht das auch bei Leuten, die gut betucht sind, einen Unterschied. Die steigen auch wegen des Preises des einfachen Tickets um«, so die Grünen-Politikerin weiter. »Das ist genau das, was wir erreichen wollen.«

Laut dem Navigationssystemanbieter TomTom hat die günstige Monatskarte vermutlich auch Auswirkungen auf den Straßenverkehr. In 23 von 26 untersuchten Großstädten konnte ein positiver Einfluss auf den Verkehrsfluss festgestellt werden.

»Die Einführung des 9-Euro-Tickets ist auch ein enormer sozialer und rechtspolitischer Erfolg. Kaum jemand fährt noch ohne Fahrschein«, sagt Sebastian Schlüsselburg, rechtspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus mit Blick auf die Antwort auf eine von ihm gestellte Schriftliche Anfrage. Vom 1. bis 24. Juni hatte die S-Bahn bei Kontrollen nur etwas über 2100 Menschen ohne gültige Tickets erwischt. Das ist weniger als ein Zehntel der Anzahl im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres. Bei der BVG sind die Zahlen nicht ganz so deutlich zurückgegangen. Dort hatten vom 1. bis 26. Juni rund 5350 keinen gültigen Fahrschein – ein Fünftel der Zahlen des Vorjahreszeitraums.

»Wir haben gemerkt, dass ein einfaches Ticket, wo man nicht überlegen muss, in welcher Fahrtzone man gerade unterwegs ist und ob man auch den anderen Zug benutzen darf, aber auch ein kostengünstiges Ticket die Menschen ganz offensichtlich zum Umsteigen bringt«, fasst Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch die bisherigen Erfahrungen zusammen. »Wenn es hier weitergeht, braucht es tatsächlich so etwas wie ein Klimaticket, mindestens Unterstützung dafür, damit wir den Erfolg, der das 9-Euro-Ticket auch war, dauerhaft umlegen können«, sagt sie.

»Ein zeitlich begrenztes 9-Euro-Ticket wird hier nicht ausreichen für den Wechsel vom Auto in den Zug. Dafür brauchen wir vom Bund eine deutliche Erhöhung der Regionalisierungsmittel für die Länder«, sagt ihr brandenburgischer Amtskollege, Infrastrukturminister Guido Beermann (CDU).

Der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD) hat inzwischen einen Vorschlag für ein Nachfolgemodell des 9-Euro-Tickets vorgelegt. Dafür haben sie ganz Deutschland in acht Großräume eingeteilt, einer davon entspricht dem Gebiet des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB). Der Standardpreis soll für einen Großraum monatlich 75 Euro betragen. Derzeit liegt der rechnerische Monatspreis für ein VBB-Abo im Gesamttarifgebiet bei 178 Euro. Ein weiterer Großraum würde 30 Euro zusätzlich kosten, monatlich 135 Euro wären laut VCD-Vorschlag für ein deutschlandweit im Nah- und Regionalverkehr gültiges Monatsticket fällig. Azubis, Studierende und Schülerinnen und Schüler sollen 30 Euro für ein Tarifgebiet zahlen, ein Jobticket soll 60 Euro pro Monat kosten.

»Wir halten den VCD-Vorschlag für zu teuer für die Berliner Lebensrealität«, sagt Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB zu »nd«. Ein günstiges und einfaches Angebot für das Tarifgebiet ABC, das die Hauptstadt und das nähere Umland umfasst, wäre laut IGEB vordringlich. »Aber wäre es vielleicht nicht eine einfachere Lösung, wenn jeder eine Mobilitätspauschale von 50 Euro monatlich pro Kopf zur freien Verfügung bekäme?«, fragt Wieseke. Größter Erfolg des 9-Euro-Tickets sei, »dass erstmals eine breite Diskussion über die Bedeutung des ÖPNV losgetreten worden ist«.

Trägt sie keine Früchte, werden ab September wieder die alten Tarife fällig. Und nächstes Jahr könnten die VBB-Fahrpreise um satte 5,6 Prozent steigen. Das ergibt der Tarifindex des Verkehrsverbundes. Im Herbst muss der aus Vertretern der beiden Länder sowie der Landkreise und kreisfreien Städte gebildete Aufsichtsrat darüber entscheiden. »Erhöhungen der Ticketpreise nach Auslaufen des 9-Euro-Tickets wären ein Bärendienst für die Verkehrswende«, sagte kürzlich der verkehrspolitische Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Kristian Ronneburg.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.