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Die Schaleks und die Ordnung der Dinge

»Zeitenwende« als spätimperialistische Normalität

  • Detlef Kannapin
  • Lesedauer: 6 Min.

Kennen Sie Alice Schalek? Nein? Sollten Sie aber. Diese Dame bildet, aus früheren, aber offenbar nicht vergangenen Zeiten, für die Gegenwart ein bahnbrechendes Modell ab. Das Modell ist der weibliche Kriegsberichterstatter. Alice Schalek (1874–1956) war eine österreichische Journalistin, die – seit 1903 für die Wiener »Neue Freie Presse« als Feuilletonredakteurin tätig – im Ersten Weltkrieg als einziger zugelassener weiblicher Kriegsberichter für die K.-u.-k.-Monarchie vor allem aus den Gebieten südlich und südöstlich des Habsburger Reiches viele Artikel der Heimatfront darbrachte.

Ihre Spezialität bestand dabei darin, glasklaren Nationalismus mit einfühlsamer Psychologie zu verbinden, was sich unter anderem darin manifestierte, dass aus ihrer Sicht Belgrad wegen fehlender Kunst und schlechter Architektur dem Erdboden gleichgemacht werden musste, die Pressequartiere möglichst schusssicher sein sollten und auch die Einheitskommandeure der eigenen Truppen bei vollem Offensivgeist menschlich zu handeln gewiss waren, denn: »Man hat mit der Beschießung gewartet, bis wir oben angelangt sind, weil sonst das ›Vergeltungsschießen‹ uns den Weg recht unangenehm hätte gestalten können.«

Ja, damit muss man nun wieder rechnen – und das, obwohl der unbestechliche Karl Kraus die Marotten der Schalek schon früh in den Glossen für »Die Fackel« sezierte und sie auch in seinem Monumentaldrama »Die letzten Tage der Menschheit« entsprechend würdigte. Es scheint, als hätten in unseren großen Tagen der »Zeitenwende« noch nicht alle den Genickschuss der Alice Schalek gehört. Taumelnd bislang Richtung Osten laufen vorerst lediglich Annalena Kriegswichtig, Agnes Stracks-Einmarschier und Marieluise Back-in-the-USSR – unsere selbst ernannten Generalfeldmarschälle Döpfner, Blome, Lobo, Merz, Fücks und Joffe zieren sich noch in der Etappe, obgleich sie doch allzu gern für den Frieden ihr Frühstück ohne Russland (noch mal Kraus) einnehmen würden. Aber sie sind eben nicht divers genug – die Zukunft gehört der feministisch-martialischen Einheizung, die wenig Federlesen mit dem einmal Erkannten macht. Und so ad infinitum.

Diesen geistigen Fußtruppen eilte vor Wochenfrist jemand zu Hilfe, mit dem man nicht unbedingt gerechnet hatte. In der Wochenzeitung »Der Freitag« vom 30. Juni ließ sich der Philosoph Slavoj Žižek mit der Sentenz vernehmen, dass man heute kein Linker sein könne, wenn man nicht eindeutig hinter der Ukraine stehe. Wohinter denn? Gibt es in der Ukraine Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Sozialismus, Kommunismus, Emanzipation, Utopien?

Wo es aus Sicht des proletarischen Internationalismus keine richtige Seite gibt, kann man sich auch auf keine stellen. Die Russische Föderation und die ruhmreiche Ukraine besetzen beide unterschiedliche Plätze im spätimperialistischen Arrangement des Kapitalismus. Man weiß nicht recht, wo Žižek seine Weisheit herhat, und muss sich verwundert fragen, ob das der gleiche Autor ist, der unter diesem Namen 2002 die Linken aufgefordert hat, die globale Welt des 21. Jahrhunderts aus einer leninistischen Perspektive zu betrachten. Denn die würde uns etwas anderes sagen.

Die Lenin’sche Imperialismustheorie ist doch nicht außer Kraft, weil dem Imperialismus ohne Not sein gesellschaftlicher Antipode entschwand. Ganz im Gegenteil, die Geschichte hat sich potenziert. Der Imperialismus ist ein negativer im Sinne Rosa Luxemburgs, weil die lebendigen Ausbeutungsgegenstände gar nicht mehr benutzt werden, sondern nach ihrer Demütigung einfach verrotten. Der Imperialismus ist ein später, weil er nicht einmal mehr ansatzweise Anstalten macht, für seine überkommene Lebensweise gesamtgesellschaftlich zu werben. Er, der Imperialismus, darf das ungestraft, weil in Gestalt eines sozialistischen Weltsystems der staatliche Gegenspieler fehlt, der ebenso gesamtgesellschaftlich die Schranke der ungehemmten Wieder- und Wiederverteilung der Welt dargestellt hat.

Wladimir Putins Aussage von 2005, wonach der Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei, ist natürlich grundfalsch. Das liegt am reaktionären Begriff Geopolitik, der immer dann ins Spiel kommt, wenn ein Imperialist dem nächsten auf den Kopf schlagen will und umgekehrt. Der Satz müsste richtig lauten: Die Selbstabschaffung der Sowjetunion war die größte sozialhistorische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Denn dann wäre im Blickfeld, worauf es anzukommen hat: eine grundlegende Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter Berücksichtigung der praktischen Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung und der Vermeidung ihrer Fehler abseits jeglicher chauvinistischer Anwandlungen (da passt übrigens auch die Freigabe aller Identitäten unter dem Dach des universalistischen Humanismus hinein).

Zu diesem einzig relevanten Thema der Zeit fällt unseren Schaleks selbstverständlich nichts, zur pünktlichen Lieferung US-amerikanischer und europäischer Haubitzen immerhin alles ein. Und dass die Tiraden des UN-Beauftragten für Kerneuropa, Andrij Melnyk, dessen Geschichtsbild sich knapp überhalb der Grasnarbe von Alfred Rosenberg befindet und dessen Borniertheit jener von Lord Halifax ähnelt, hierzulande einfach so hingenommen wurden, ist als Symptom des Verfalls einer politischen Kultur, die die Bezeichnung Kultur aus dieser Gleichung schon lange gestrichen hat, überaus erhellend. Wenn danach (!) am 22. Juni 2022 (!) laut »Spiegel« Putin »wie eine Symbiose aus Hitler und Stalin« sein soll, dann ist das in etwa ebenso tragfähig, als würde man meinen, die Symbiose aus Franklin Delano Roosevelt und Idi Amin ergäbe Wolf Biermann. Dieser Schwachsinn ist übrigens weiträumig unwidersprochen geblieben – selbst nach der erzwungenen Abberufung von Melnyk wird nur fehlender »Takt«, nicht aber die historische Geisterfahrt moniert.

Wie sich doch manche Bilder gleichen: Unter normalen Umständen hätte so ein Melnyk maximal Marktredner in Lwiw werden können, der sich nach getaner Arbeit in sein Stammlokal zurückzieht und garstige Lieder singt. Kein Schaden – kein Problem. Im Zeitalter der spätimperialistischen Normalität allerdings, wo das unvermittelte Nebeneinander von Massenschlacht und Massentod mit dem Eventcharakter des Spektakulären sich offensichtlich nicht beißt, sondern ergänzt, wo sich die EU einen Gedenktag an die Opfer von Nazismus und Stalinismus leistet, ohne überhaupt zu ahnen, welche geschichtlichen Zusammenhänge sie aus dem Vorfeld des Zweiten Weltkrieges streicht, und wo Kriege in der Welt nur noch um ihrer selbst geführt werden, weil Kriegsziele, Friedensbemühungen und Friedensschluss gar nicht mehr erkennbar und gewollt sind – in diesem Zeitalter mit seinen Abenteurern, kriegerischen Gesamtjournalisten und einfach nur Verantwortungslosen ist die Suche nach Alternativen selbst zu einem Verbrechen geworden, das ausgelöscht gehört und also einem »Vernichtungskrieg« unterzogen werden muss.

Die Schaleks halten weiter die Ordnung der Dinge im Lot, begradigen die Heimatfront und passen wie die Faust aufs Auge. Dass die Empörung der Elemente sich endlich mit dem Klassenbewusstsein der Sittlichkeit verbindet, um die Katastrophe noch abzuwenden, ist momentan ein Luftschloss.

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