Bettina Jarasch muss sich etwas anhören

Die Verkehrswendelobby ist bei der Mobilitätssenatorin geladen – und hat viele Forderungen im Gepäck

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Fahrradlobby von ADFC und Changing Cities, der Fachverband Fuss e. V., der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland, der Umweltverband BUND, Fahrgastvertreter vom Deutschen Bahnkundenverband und der IGEB: Diesen Dienstag trifft sich am späten Nachmittag das Who’s who der Berliner Verkehrswendeszene bei Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch sowie Staatssekretärin Meike Niedbal (beide Grüne) auf deren Einladung. Es geht ums Kennenlernen, die Vertreterinnen und Vertreter sprechen aber auch über ihre Wünsche und Unzufriedenheiten. Es ist das erste offizielle Treffen dieser Art.

Der aus aus dem Fahrrad-Volksbegehren hervorgegangene Verein Changing Cities hat erst Ende Juni anlässlich des vierten Jubiläums der Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes eine bittere Bilanz gezogen. Ein Drittel der Zeit bis zur finalen Umsetzung im Jahr 2030 hat die Senatsverwaltung weitgehend ergebnislos verstreichen lassen, heißt es von den Fahrradaktivistinnen und -aktivisten.

Der in der vergangenen Woche im Senat vorgelegte Bericht zur »Umsetzung des Leitprojekts Radwegeinfrastruktur« für 2021 dokumentiert den bisher äußerst mäßigen Fortschritt. Gerade einmal 3,2 Prozent des 871 Kilometer langen Fahrrad-Vorrangnetzes sind bis Ende 2021 fertiggestellt worden, 0,9 Prozent davon im vergangenen Jahr. Vom über 1505 Kilometer langen Ergänzungsnetz wurden in den vergangenen fünf Jahren sogar nur 1,9 Prozent fertig, ein Viertel davon 2021. Außerdem sollen bis 2030 noch 550 Kilometer Kilometer Radwege an Hauptverkehrsstraßen entstehen – davon sind seit 2017 gerade mal 2,3 Prozent geschafft worden. Fast die Hälfte der im Jahr 2021 von den Bezirken gebauten 27,4 Kilometer Radwege entstanden übrigens allein in Friedrichshain-Kreuzberg.

»Wenn wir so weitermachen, sind im Jahr 2030 gerade mal 15 bis 20 Prozent geschafft«, sagt Changing-Cities-Vorstand Denis Petri zu »nd«. »Und von dem, was fertiggestellt ist, entspricht so gut wie nichts den festgelegten Standards im Vorrangnetz«, so Petri weiter. Die Fahrradlobby bemängelt, dass im Doppelhaushalt 2022/2023 nicht einmal ausreichend Mittel für die geplanten 100 Kilometer des Vorrangnetzes eingestellt worden sind. Rund 80 Millionen Euro errechnet Changing Cities auf Basis von Senatsberechnungen allein dafür. Der Gesamtetat für sämtliche Radverkehrsmaßnahmen liegt aber nur bei 60 Millionen Euro.

Senatorin Jarasch verteidigte mehrfach die Haushaltsansätze als dem Realismus geschuldet. Denn – das geht auch aus dem Fortschrittsbericht hervor – bereits die bisher eingestellten Mittel wurden nur teilweise verausgabt. Von 8,5 Millionen Euro Investitionsmitteln im regulären Haushalt wurden 2021 nicht einmal die Hälfte verbaut. Von den über mehrere Jahre zur Verfügung stehenden 14,1 Millionen Euro aus dem Sondervermögen Wachsende Stadt flossen 2021 gerade mal 410 000 Euro ab.

»Wenn ein Radweg von Planungsbeginn bis zur Realisierung im Schnitt immer noch vier Jahre dauert, müssten jetzt eigentlich 600 Kilometer in Planung sein«, sagt Petri. Doch laut Senatsbericht haben die Bezirke im vergangenen Jahr gerade einmal knapp 150 Kilometer konkret geplant.

Unzufrieden mit den Fortschritten ist auch der Berliner Fahrgastverband IGEB. Busspuren, Vorrang an Ampeln, der Straßenbahnausbau – alles geht viel langsamer voran als eigentlich nötig. »Die Verkehrswende wird nur dann gelingen, wenn wir dem ÖPNV den Stellenwert einräumen, den er hat. Es sind Massenverkehrsmittel, mit denen Masse gemacht werden kann«, sagt IGEB-Vizechef Jens Wieseke zu »nd«. »Als Lehre aus dem 9-Euro-Ticket müssen auch zukunftsfähigere Tarifmodelle in den Fokus rücken. Preiswerte Flatrate-Tarife sind das Gebot der Stunde«, nennt Wieseke ein weiteres Anliegen.

Zur Sprache kommt zudem ein leidiges Thema innerhalb des sogenannten Umweltverbundes aus Bahnen und Bussen, Rad- und Fußverkehr: die gegenseitigen Flächenkonkurrenzen. Eine neue Fahrradspur auf der Straße kann die Straßenbahn beispielsweise ausbremsen, wenn sie keine eigene Spur hat. Wie bei der Planung für den Umbau der Dörpfeldstraße in Adlershof.

»Der ÖPNV ist, was Beförderungsleistung, Inklusion und Barrierefreiheit angeht, ganz klar das Rückgrat der Verkehrswende«, sagt Heiner von Marschall zu »nd«. Er ist Vorsitzender des Landesverbands Nordost des Verkehrsclubs VCD. »Es muss versucht werden, eine Verkehrsart anders zu führen, wenn es zu eng wird«, so von Marschall weiter. Die definierten Vorrangnetze von ÖPNV, Fahrrad- und Fußverkehr müssten an solchen Flaschenhälsen entflochten werden. Eigentlich ist der Umgang mit solchen Konflikten in den Paragrafen 24 und 25 des Mobilitätsgesetzes geregelt. »Wir wollen aber klare Planungsrichtlinien und Vorgaben«, fordert der VCD-Landeschef.

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