Endspurt für die neue Verfassung

In Chile tobt vor dem Plebiszit der Meinungskampf zwischen rechts und links

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein Bestseller: Am 4. Juli überreichte der chilenische Verfassungskonvent dem Präsidenten Gabriel Boric die Endversion des Entwurfs der neuen Verfassung – wenige Tage später war das Buch für umgerechnet drei bis vier Euro schon überall zu kaufen. Lange Schlangen bildeten sich vor Buchhandlungen, die als Erste die gedruckte Version im Verkauf hatten.

Mit der Veröffentlichung der Endversion hat in Chile der Abstimmungskampf begonnen. Am 4. September werden die Chilen*innen entscheiden, ob sie die alte Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur durch die neue ersetzen wollen.

Auch der kommunistische Basisaktivist Aldo Leiva hat sich sofort die Onlineversion der neuen Verfassung heruntergeladen und darin herumgestöbert. »Der Konvent hat eine Mammutsaufgabe hinter sich«, sagte er gegenüber »nd«. Die Abgeordneten arbeiteten zum Teil sieben Tage die Woche und hatten Sitzungen, die länger als 20 Stunden dauerten, um die neue Verfassung innerhalb eines Jahres fertigzustellen.

Die neue Verfassung bezeichnet den chilenischen Staat fortan als plurinational, aufgebaut auf autonomen Gemeinden, Regionen und indigenen Gemeinschaften. Der Staat soll soziale Rechte wie Bildung, eine würdige Behausung oder das Recht auf Stadt garantieren und in all seinen Institutionen geschlechterparitätisch aufgebaut sein. Umweltschutz und die Bekämpfung der Klimakrise sind Aspekte, die den gesamten Text und seine Artikel beeinflussen.

Für Leiva ein enormer Sprung nach vorne. Er unterstreicht, dass fortan Wasser als öffentliches Gut anerkennt wird. Die neue Verfassung »zwingt die Parlamentarier und die Regierung dazu, endlich all diese Rechte umzusetzen«.

Doch das Szenario für einen Sieg am 4. September – das Datum, an dem der Sozialist Salvador Allende 1970 seinen historischen Wahlsieg errang – ist düster. Die letzten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Cadem sagen mittlerweile einen Sieg des gegnerischen Lagers mit 53 Prozent voraus. Wobei allerdings die geringe Zahl der per Festnetz befragten Personen, 708, die Qualität der Umfrage infrage stellt.

In den Medien prägen Gegner*innen die Fernsehdebatten. Die christdemokratische Politikerin Ximena Rincón behauptete etwa, die neue Verfassung würde die chilenische Gesellschaft spalten. Der Präsident der linksliberalen Partido Radical, Carlos Maldonado, schrieb in einer öffentlichen Erklärung, die neue Verfassung beinhalte zu viele Sonderrechte für die indigenen Völker.

Derweil zielt die Kampagne der rechten Parteien darauf ab, ein Nein zur neuen Verfassung mit einer Ablehnung zur »politischen Klasse« zu verbinden. Die neue Verfassung verrate die Interessen der chilenischen Bevölkerung, stattdessen habe ein linksideologisch dominiertes Konvent eine radikalisierte Verfassung geschrieben, die einzig linken Politiker*innen und deren Familien zugute komme, so die Darstellung der Rechten.

Doch ganz im Gegensatz zu den Prominenten mehrerer Mitte-links-Parteien entschieden sich in den vergangenen Wochen alle Parteien abseits der Rechten, für die neue Verfassung zu stimmen. Besonders überraschend war die Entscheidung des Parteitages der Christdemokratischen Partei, auf dem 63 Prozent der Delegierten für die neue Verfassung stimmten. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Yasna Provoste sagte mit einem Strahlen im Gesicht zu den chilenischen Medien: »Die Christdemokratische Partei muss den Wandel verstehen und ihn lenken.«

Leiva kritisiert die Rolle der Medien – er glaubt, sie betreiben Desinformation. Zu häufig können Gegner*innen falsche Aussagen ohne Widerrede verbreiten. Ein Gerücht, das schon länger existiert, behauptet etwa, dass mit dem Recht auf eine würdige Behausung, die Regierung jedes Haus enteignen und an andere übergeben könne. Eine Falschaussage, die die Menschen bei ihren Ängsten abholt, das lang erarbeitete und vor sozialem Abstieg schützende eigene Haus zu verlieren.

Wegen der herrschenden Desinformation meint Leiva: »Nur die sozialen Bewegungen können die Menschen überzeugen, für die neue Verfassung zu stimmen.« Schon jetzt baut er am Wochenende Stände auf, um die Passant*innen über den Inhalt der neuen Verfassung zu informieren. Überall im Land bilden sich Komitees, die ähnliche Aufgaben erfüllen wollen. Meistens arbeiten dabei Parteien und soziale Bewegungen getrennt voneinander.

Auch die Regierung, die laut Gesetz neutral bleiben muss, kündigte eine Informationskampagne an. Unter anderem sollen 900 000 Bücher mit dem Text der neuen Verfassung gedruckt und an die Bevölkerung verteilt werden.

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob es die Befürworter*innen schaffen, das Blatt zu wenden. Auch bei der Abstimmung im Jahr 2020, bei der entschieden wurde, ob eine neue Verfassung ausgearbeitet werden soll, sagten Umfragen lange Zeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Schlussendlich gewann das Ja-Lager mit fast 80 Prozent der Stimmen.

Zudem ist zum ersten Mal seit 2009 die Wahlteilnahme für alle Chilen*innen wieder obligatorisch. Das macht es noch schwieriger, das Wahlverhalten jener vorherzusagen, die vormals nicht an Abstimmungen teilgenommen haben. Zumindest bei früheren Wahlen bedeutete eine größere Wahlbeteiligung fast immer einen Sieg des linken Lagers.

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