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- Tour de France und Doping: 25 Jahre Jan Ullrich in Gelb
Das Ende der Maßlosigkeit
Vor 25 Jahren fuhr Jan Ullrich ins Gelbe Trikot der Tour de France. Mitten in der Hochdopingphase. Wie hat sich der Radsport seitdem entwickelt?
15. Juli 1997. Eine Mammutetappe der Tour de France steht an. 252 Kilometer müssen in den Pyrenäen von Luchon hinauf nach Andorra-Arcalis zurückgelegt werden. Ein junger Bursche im deutschen Meistertrikot fährt plötzlich den Favoriten davon. Kletterhelden wie der Italiener Marco Pantani und Frankreichs Richard Virenque versuchen hinterherzukommen. Vergeblich. Dabei ist der junge Mann mit der Startnummer 8 bei seiner Beschleunigung nicht einmal aus dem Sattel gegangen. Nur der Tritt in die Pedalen wurde fester. Jan Ullrich fährt an Aufschriften auf der Straße vorüber, die die Namen Riis – Toursieger des Vorjahres –, des einheimischen Helden Virenque oder Pantanis tragen. Diese Größen der Szene hat der 23-Jährige nun aber abgehängt. Das Gelbe Trikot ist seines. Mehr als eine Minute nimmt er allen Kontrahenten ab. Bjarne Riis, eigentlich Kapitän des deutschen Teams Telekom, verliert sogar mehr als drei auf seinen bisherigen Adjutanten. Die Legende besagt, dass der Däne seinem Teamkollegen gesagt habe: »Wenn du dich stark fühlst, dann fahre los.« Und Ullrich, der gebürtige Rostocker, später an der KJS in Berlin-Hohenschönhausen ausgebildet, fuhr los.
Es war der Beginn einer nicht für möglich gehaltenen Radsporteuphorie in Deutschland. Und nicht nur dort. Auch die Franzosen waren angetan von diesem jungen Helden aus dem Nachbarland. Der Autor dieser Zeilen trampte damals durch Frankreich, hatte mit der Tour de France noch nicht viel am Hut. Aber jeder Franzose, der ihn mitnahm, sprach ihn auf diesen »Jan Uuriiich« an, wenn er mitbekam, dass sein Mitfahrer aus Deutschland kam. Jeder wollte mehr wissen über diesen Wunderknaben.
Ullrich setzte seine Triumphfahrt fort. Drei Tage später gewann er in Saint-Etienne, am Freitag auch Etappenort der aktuellen Tour de France, überlegen ein Zeitfahren. Statt eines windschlüpfrigen Helms hatte er nur eine flatternde Stoffmütze auf dem Kopf. Er musste unterwegs sogar begeisterten Zuschauern im Slalomstil ausweichen. All das hinderte ihn nicht daran, den drei Minuten vor ihm gestarteten Virenque einzuholen. Es war der Beginn einer Ära. Allerdings der Ära eines Unvollendeten.
Jan Ullrich brachte ein besonderes Talent für den Radsport mit. Er war auf unterschiedlichem Gelände exzellent, siegte bei Querfeldeinrennen, wurde Landesmeister im Bahnvierer. Vor allem aber brillierte er auf der Straße. 1993 war er Weltmeister der Amateure geworden. In Oslo holte der zwei Jahre ältere US-Amerikaner Lance Armstrong den Titel bei den Profis. Damals ahnte wohl keiner von beiden, welche Dimensionen ihre Rivalität später annehmen sollte.
»Jan war von seinen Möglichkeiten her stärker als Armstrong«, behauptet Ullrichs damaliger Mentor Rudy Pevenage noch heute. »Aber Armstrong konzentrierte sich zwölf Monate auf den Radsport«, fügt der Belgier stets hinzu. Im Gegensatz dazu legte sich Ullrich immer wieder seinen berühmt-berüchtigten und medial extensiv ausgeschlachteten »Weihnachtsspeck« zu. Den »Bauch der Nation« maßen dann selbsterklärte Experten aller Art per Augenschein und schätzten ab, ob es mit dem zweiten Toursieg etwas werden könne.
Nach 1997 kam letztlich aber keiner mehr hinzu. 1998 brach Ullrich in den Alpen ein, wurde immerhin noch Gesamtzweiter. Danach kam Armstrong. Siebenmal gewann der Amerikaner die Tour. Nicht nur, weil er konsequenter plante und trainierte. Wahrscheinlich auch, weil er konsequenter und effizienter dopte. Armstrong war Kunde des damaligen Dopinggurus Michele Ferrari, eines Sportmediziners, der bei seinem Landsmann Francesco Conconi, dem Erfinder des Blutdopings, gelernt hatte. Ullrich griff auf die Dienste von Freiburger Sportmedizinern zurück, die sich beim Kühlen von Blutkonserven schon mal vertaten, wie spätere Ermittlungen ergaben. Er war auch Kunde von Eufemiano Fuentes, dem berühmten spanischen Frauenarzt, der das Kühlsystem seiner Klinik dem halben Fahrerfeld zur Verfügung gestellt hatte. Auch bei ihm gab es einen Unfall aufgrund unsachgemäß gelagerter Blutkonserven des spanischen Profis Jesus Manzano. Der Vorfall löste schließlich die polizeiliche Dopingermittlung »Operacion Puerto« aus, dem Beginn des Abstiegs von Jan Ullrich.
Im Gegensatz zu vielen anderen gab der Deutsche Dopingbetrug bis heute nie zu. Genützt hat es ihm nichts. Während viele Kollegen seiner Generation weiterfuhren und nur die wenigsten je gesperrt wurden, wurde Ullrich zur Persona non grata. Tauchte er im Radsport wieder auf – selbst nach vielen Jahren, als er etwa 2017 als designierter Sportlicher Leiter des Eintagesrennens Rund um Köln zurücktreten musste –, war der öffentliche Druck auf ihn unverhältnismäßig groß.
Dass er seit dem Karriereende immer wieder abstürzte, Eklat an Eklat reihte, verwundert da kaum. Verkehrsunfälle wurden bekannt, Alkoholeskapaden, ein handfester Nachbarschaftsstreit auf Mallorca, der im Polizeigewahrsam endete, danach sogar der tätliche Angriff auf eine Prostituierte. Und weil es sich um Jan Ullrich handelte, den einstigen Radsporthelden, den Tourchampion und Olympiasieger, wurde jede Eskapade zur riesigen Schlagzeile. Es braucht wohl eine besondere Kraft, im Normalbereich zu leben, wenn ein ganzes Land über Jahre hinweg immer nur das Maßlose, das Einzigartige verlangt hatte. Ullrich konnte sie nicht immer aufbringen.
Den tiefsten Punkt erlebte er wohl vor etwa einem halben Jahr. So kann man es den Aussagen seines einstigen Rivalen Lance Armstrong in der ARD-Dokumentation »Being Jan Ullrich« entnehmen. Der Amerikaner besuchte Ullrich im Dezember 2021 in einer Entzugsklinik in Mexiko. »Er war ans Bett gefesselt, ohne Bewusstsein. Es war das Allerschlimmste. In so einem Zustand hatte ich noch keinen gesehen«, erinnerte sich Armstrong. Aktuell scheint Ullrich in seiner Wahlheimat Merdingen einen Weg aus diesem Tal zu finden. Einen würdigen Platz im Radsport, der seinen Leistungen wie seinen Verfehlungen gerecht wird, hat er noch immer nicht.
Die Ära Ullrich-Armstrong, hat immerhin dazu geführt, dass Doping im Radsport jetzt konsequenter bekämpft wird. Auf Epo wird getestet. Im individuellen Blutpasssystem werden Schwankungen analysiert. Um nicht aufzufallen, kann Epo nur noch in geringeren Dosen genommen werden. Auch die Infusion von einem halben Liter Eigenblut würde sofort auffallen, also sind maximal noch 150 Milliliter drin, und auch das ist nicht risikofrei beim nächsten Dopingtest.
Zwischen 1996 und 2009 trug nur ein Fahrer das Gelbe Trikot nach Paris, der später nicht wegen Dopings gesperrt werden sollte. Den Amerikanern Armstrong und Floyd Landis sowie dem Spanier Alberto Contador wurden ihre Toursiege später sogar aberkannt. Danach passierte das keinem Fahrer mehr, es gab lediglich noch ein paar Verdachtsmomente für den Missbrauch von Medikamenten. Auch wenn jedes Jahr ein paar Radprofis beim Dopen erwischt werden, blieben die großen Skandale der Vergangenheit aus. Allen verbesserten Kontrollsystemen und regelmäßigen Polizeirazzien in Teamhotels zum Trotz.
Der Anreiz für den Betrug ist offenbar kleiner geworden, denn mit den geringeren Dosen sind auch die erhofften Effekte geringer. Doping ist dennoch nicht aus dem Peloton verschwunden. Diese Behauptung würde niemand im Tourtross aufstellen. Die Maßlosigkeit aber hat ein Ende gefunden. Zwölf Monate nach Jan Ullrichs Sieg-Jubiläum wird bei der nächsten Tour der 25. Jahrestag der Festina-Affäre anstehen. Die hatte das Ausmaß der damaligen Betrugsauswüchse erstmals erkennen lassen. Auch das wird ein Moment zum Innehalten.
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