Bunte Ameisen

Der Berg wartet, der Mensch kommt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Der Berg tut nichts. Er wartet. Irgendwann geschieht es. Ein Fuß rutscht, ein Haken sirrt aus der Wand, eine Balance wird verloren. Der Berg hat Freunde, die unser menschliches Wesen ausmachen: Ungeduld, Unwissen, Hochmut. Und Leichtgläubigkeit. Dann, wenn Natur die Täuschungsmasken anlegt: Windstille und ein strahlendes Firmament. Berg und Mensch kommen einander näher. Genauer: Der Berg wartet, der Mensch kommt. Der Berg ist hoch, der Mensch stürzt in die Tiefe. In diesem Sommer, so der Deutsche Alpenverein, habe das Unglück am Fels besonders Konjunktur. Lagginhorn, Montblanc, Totes Gebirge, Sarntal, Marmolada, Hochgrat, Hoher Fleschen.

Reinhold Messner kann Warnvorträge halten, so viel er mag – jeder Abenteurer, jeder Extremist der unvergleichlichen Leistung wirkt heute nur noch als Impulsgeber für fatale Selbstüberschätzungskapriolen; es gibt eine ausgefeilte Infrastruktur der scheinbar gezähmten Wildnis. Natürlich bereitet man sich vor, natürlich ist man gut ausgerüstet, aber dennoch stimmt nichts mehr: nicht mehr das Verhältnis von begierigem Körper und regulierendem Geist, nicht mehr die Beziehung zwischen stimulierender Vermessenheit und wirklichem Vermögen, nicht mehr der Zusammenhang von Akklimatisierung und Aktion.

»Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen«, schrieb Albert Camus. Immer schon musste der Berg die Steigerungslust des menschlichen Bewusstseins aushalten. Er thront als Gott, er steht als Metapher, er reckt sich als Mythos. Er ist Sportarena, geologisches Phänomen. Berge haben Furcht erweckt, Anbetung ausgelöst, Seelen beflügelt, Philosophen angeregt, Eroberer ins Verderben gestürzt, Nationalisten zum Kampf gelockt, Helden geboren. Das überhöhte Bild, das Bergsteiger in zahllosen Büchern vermittelten, gewöhnte zugleich Millionen Menschen an die Besessenheit, als sei sie, jedes Jahr speziell von Juni bis September, per Sonntagstourismus nachahmbar.

Oberstes Abenteuer wäre inzwischen die Kraft zu einem Staunen, das Abstand hält. Wie es einst der Olymp gebot, der Berg Sinai, der Kailash in Tibet, der Ayers Rock in Australien. Bergsteigen ist »Eroberung des Nutzlosen« (Werner Herzog), aber leider ist es Teil jener Ausbeutung geworden, die Berge nicht besteigt, sondern nur noch mit Füßen tritt. Goethe sagte von der Natur: »Sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer Recht.« Der bayerische Kabarettist Georg Ringsgwandl wurde schon 1996 im »nd«-Interview deutlicher: »Die Leit denken, ihnen passiert nix, weil der Alpenverein hinter ihnen steht, und dann klatschen sie herab, die bunten Ameisen.«

Auch dieser Sommer der Bergtragödien wird vergehen, als habe der nadelscharfe Wind ganz oben einzig den Zweck, die Warnungen wegzublasen. Als hätte es diese Mahnungen nie gegeben. Der Berg wartet. Wir kommen.

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