Hoffen auf neuen Draghi-Effekt

Die Europäische Zentralbank wird an diesem Donnerstag wohl die Zinswende einleiten

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Beim Euro herrscht derzeit wieder Tristesse.
Beim Euro herrscht derzeit wieder Tristesse.

So klar wie jetzt hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihre geldpolitischen Absichten noch nie im Voraus signalisiert: Sie werde ihre Leitzinsen an diesem Donnerstag um 25 Basispunkte anheben, erklärte die EZB bereits im Juni. Es wäre die erste Anhebung seit mittlerweile elf Jahren und die vor allem von Sparern schon lange ersehnte Zinswende.

Zu den Hintergründen der Entscheidung gehört, dass die europäische Gemeinschaftswährung im Vergleich zum US-Dollar nach monatelanger Talfahrt so schwach wie seit zwei Jahrzehnten nicht ist. Finanzmarktexperten erklären dies mit der Geldpolitik der EZB-Präsidentin Christine Lagarde, während die US-amerikanische Notenbank Fed frühzeitig höhere Zinsen angekündigt hatte und dies dann auch umsetzte (auf 1,75 Prozent). Hingegen hielt die EZB am Nullzins, den sie im März 2016 nach sieben aufeinanderfolgenden Absenkungen erreicht hatte, bisher standhaft fest. Großanleger investieren aber lieber in die als sicher geltenden Geldhäfen, wo dank höherer Zinsen auch mehr Rendite winkt.

Unter Druck geriet der Euro außerdem infolge des Russland-Ukraine-Krieges. Immer deutlicher wird seither die Abhängigkeit der europäischen Volkswirtschaften von russischen Energielieferungen, während die Vereinigten Staaten weit weniger betroffen sind. Vor allem das Modell der größten Volkswirtschaft Europas, der deutschen, steht auf der Kippe: billige Energie-Importe einerseits und teure Industrie-Exporte andererseits. Dieses Modell gerät durch das konjunkturelle Schwächeln des wichtigsten Handelspartners, China, noch zusätzlich unter Druck.

Die Folgen des Euro-Falls sind gravierend. So verteuert er Importe, vor allem Energielieferungen, zusätzlich. Im Juni stieg die Inflation im Euroraum auf durchschnittlich 8,6 Prozent, in mehreren EU-Ländern ist sie sogar zweistellig. Hierauf muss Lagarde wohl reagieren, schließlich lautet das oberste Ziel der Notenbank »Preisstabilität«. Laut geldpolitischem Lehrbuch dämpfen hohe Zinsen, die die Volkswirtschaft insgesamt bremsen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit die Teuerung.

Gleichwohl ist fraglich, ob dies jetzt wirklich zutrifft, zumal die bisher lockere Geldpolitik die Inflation anders als der Ukraine-Krieg nicht beflügelte. Es sind vor allem die schon vor dem Angriff Russlands und seither erst recht stark steigenden Energiepreise, die wiederum Lebensmittelpreise und damit die Inflation befeuern. Die sogenannte Kerninflation (ohne Energie und Lebensmittel) liegt bei deutlich moderateren 3,7 Prozent.

Vor diesem Hintergrund erschiene ein großer Zinsschritt, den vor allem konservative Ökonomen fordern, überzogen: »Eine vor allem kostengetriebene Inflation durch Zinserhöhungen zu bekämpfen, dämpft die Nachfrage und lässt die Konjunktur einbrechen«, warnt Franz Nauschnigg, ex-Abteilungsleiter in der Österreichischen Nationalbank, im Fachblatt »Wirtschaftsdienst« vor einer Überreaktion.

In einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters unter 63 Ökonomen rechneten denn auch alle bis auf einen mit einer minimalen Zinserhöhung um 0,25 Prozentpunkte. Erwartet wird aber eine weitere Anhebung um 0,5 Prozentpunkte im September, gefolgt von Anhebungen im Oktober und Dezember auf dann 1,25 Prozent. Im langjährigen Vergleich wäre das immer noch moderat.

Eine Mehrheit im EZB-Rat befürchtet zudem überbordende Zinsspekulationen, falls die Notenbank jetzt von der vorgegebenen Marschroute abweichen würde. Das hat vorrangig mit der hohen Staatsverschuldung in der Eurozone zu tun, die in der Coronakrise bis auf über 90 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gestiegen war und infolge der Sanktionen gegen Russland erneut kräftig zulegen dürfte. Die hohen Schulden – die EU-Regeln sehen maximal 60 Prozent vor – waren angesichts extrem niedriger Zinssätze lange Zeit leicht zu finanzieren, zeitweise freuten sich Finanzminister wie Olaf Scholz sogar über Minuszinsen. Davon profitierten auch extrem verschuldete Staaten wie Griechenland oder Italien.

Da dies jetzt in Gefahr geraten könnte, hoffen die Hüter des Euro auf einen neuerlichen Draghi-Effekt. Als Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) hatte dieser im Juli 2012 versichert, dass seine EZB bereit sei, »alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten«, was die durch die Eurokrise verunsicherten Finanzakteure nach monatelangen Turbulenzen an den Märkten letztlich beruhigte. Nun aber steht Draghi in Talien einer Regierung vor, die in einer Krise steckt. Das breite Bündnis von links bis weit rechts war geplatzt, und ob Draghi Ministerpräsident bleibt, war bei Redaktionsschluss noch offen. Auf die politischen Unruhen in Rom reagieren die Finanzakteure nervös, die Anleiherenditen Italiens schießen seither durch die Decke. Damit zeichnet sich ab, dass der italienische Staat für seine Schulden wieder deutlich höhere Zinssätze als etwa Deutschland aufbringen muss. Zudem beträgt die Staatsverschuldung schon rund 150 Prozent. Fällt Italien, droht der Eurozone ein Dominoeffekt. Das Land besitzt die drittgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union.

Um einer neuen Schuldenkrise vorzubeugen, wird EZB-Präsidentin Lagarde am Donnerstag nicht nur die Leitzinserhöhung verkünden, sondern voraussichtlich auch den neuen »Transmission Protection Mechanism« erläutern. Mit diesem will die EZB durchgreifen, wenn Staatsanleihen einzelner Eurostaaten künftig aus dem Ruder laufen. In diesem Fall soll die Notenbank Staatsanleihen solcher Länder aufkaufen – und zwar unbegrenzt. Allerdings könnte das neue Programm sehr nahe an der verbotenen Staatsfinanzierung dran sein. Wie bei früheren Rettungspaketen der Zentralbank dürfte dies wieder die Gerichte beschäftigen.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -