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»Für andere einzutreten, fand ich gut«

Die Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf über die Aufarbeitung der Militärdiktatur in Chile und ihr Engagement für einen entführten Wirtschaftsfunktionär

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 12 Min.
Rechtsanwältin Petra Isabel Schlagenhauf
Rechtsanwältin Petra Isabel Schlagenhauf

Vor genau fünf Jahren, am 23. Juli 2017, wurde im Berliner Tiergarten Ihr Mandant Trinh Xuan Thanh, ein früherer vietnamesischer Wirtschaftsfunktionär, der in Deutschland Asyl beantragt hatte, durch den vietnamesischen Geheimdienst entführt und nach Vietnam verschleppt. Dort wurde er Anfang 2018 zu zweimal lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt. Wie geht es ihm heute?

Interview

Petra Isabel Schlagenhauf ist in Baden-Württemberg aufgewachsen.
Als Schülerin ging sie ein Jahr vor Beginn der Pinochet-Diktatur nach Chile. Nach dem Abitur studierte sie Rechtswissenschaften in Berlin und ist seit 1989 Anwältin für Ausländer-, Familien- und Strafrecht.

Den Umständen entsprechend. Die Haftbedingungen in Vietnam sind ja nicht mit denen in Deutschland vergleichbar. Es gibt sehr große Zellen mit vielen Inhaftierten darin. Die Familie darf ihn einmal pro Monat besuchen, während der Pandemie waren Besuche gar nicht möglich. Einen Zugang zu Anwälten hat er aktuell nicht. Wie es mit einem Zugang zu Ärzten aussieht, weiß ich leider nicht.

Haben Sie die Hoffnung, dass er das Gefängnis wieder verlassen und zu seiner Familie nach Deutschland kommen kann?

Diese Hoffnung habe ich nicht aufgegeben. Ich weiß, dass die Bundesregierung die Sache meines Mandanten zu einem permanenten Thema in zwischenstaatlichen Gesprächen macht. Ich hatte zu Beginn allerdings die Hoffnung, die Freilassung würde schneller gehen. Ein Problem ist, dass diejenigen Personen, die die Entführung höchstpersönlich angeordnet haben, nämlich Nguyen Phu Trong, der Chef der Kommunistischen Partei Vietnams, und Innenminister To Lam, noch in ihren hohen Ämtern sind. Wahrscheinlich wird es dauern, bis sie aus Alters- oder anderen Gründen aus den Ämtern ausscheiden. Beide sind nicht mehr ganz jung.

Was wirft die vietnamesische Justiz Ihrem Mandanten vor?

Er soll als Chef eines staatseigenen Unternehmens gegen Wirtschaftsvorschriften verstoßen und damit das Unternehmen in die roten Zahlen gebracht haben. Dabei soll es um riesige Summen gehen. In dem internationalen Haftbefehl gegen meinen nach Deutschland geflüchteten Mandanten aus dem Jahr 2016 gab es noch keine Korruptionsvorwürfe. Die kamen erst später dazu, als er 2018 in Hanoi vor Gericht stand. Man kann dann darüber spekulieren, ob das konstruiert war. Vietnam hätte meinen Mandanten nach der Entführung nicht vor Gericht stellen dürfen. Dieses Recht hat ein Staat laut internationaler Rechtsprechung gegen eine Person verwirkt, die er zuvor gewaltsam entführt hat. Darum ist seine Haft in Vietnam aus völkerrechtlicher und auch aus deutscher Sicht rechtswidrig. Das hat der Bundesgerichtshof für den Fall meines Mandanten so bestätigt.

Vor seiner Entführung hatte Thanh elf Monate lang in Deutschland gelebt und hatte regelmäßig Kontakt zu Ihnen. Wie haben Sie ihn erlebt?

Als einen angenehmen, freundlichen und intelligenten Menschen. Er hatte mein Büro aufgesucht, weil er mit einem vietnamesischen Auslieferungsersuchen gerechnet hatte. Er wollte sich darauf so gut wie möglich juristisch vorbereiten.

Dieses Auslieferungsersuchen gab es ja auch.

Ja, aber davon habe ich erst nach der Entführung erfahren. Die Staatsanwaltschaft hat den Auslieferungsantrag Vietnams nicht an das zuständige Gericht weitergeleitet. Wäre das passiert, hätte mein Mandant möglicherweise wegen Fluchtgefahr in Auslieferungshaft kommen können.

Beim Gerichtsprozess gegen einen Entführungshelfer vor dem Berliner Kammergericht im Jahr 2018 kam raus, dass in dem Auslieferungsantrag nicht einmal stand, gegen welchen Strafrechtsparagrafen Ihr Mandant verstoßen haben soll.

Ja. Das ist nur ein Beispiel für die fehlende juristische Substanz des Antrages. Ein Beamter des Bundesjustizministeriums hat mir gegenüber später gesagt, die Bundesregierung hätte grundsätzlich Interesse gehabt, einmal ein vietnamesisches Auslieferungsersuchen zu prüfen, auch wenn es zwischen Vietnam und der Bundesrepublik kein Auslieferungsabkommen gibt. Davon hatte man sich versprochen, dass Vietnam im Gegenzug deutsche Straftäter ausliefert, die nach Vietnam geflüchtet waren, meist pädophile Männer. Doch wegen der fehlenden juristischen Substanz des vietnamesischen Antrages bei meinem Mandanten war das kein Fall, in dem das konkret wurde.

Warum sind Sie eigentlich Juristin geworden?

Ein Jurastudium eröffnet eine große Bandbreite beruflicher Tätigkeiten. Ich stamme nicht aus einer wohlhabenden Familie. Darum war es für meine Berufswahl auch wichtig, dass ich in dem Beruf meinen Lebensunterhalt verdienen kann. Das wäre eventuell schwierig geworden, wenn ich Sprachen oder Literatur studiert hätte, was mich auch interessiert hätte.

Und warum haben Sie sich dann entschieden, als Anwältin zu arbeiten?

Während des Studiums wollte ich eigentlich Verwaltungsrichterin werden. Ich habe dann aber im Referendariat gesehen, dass ich als Anwältin freier juristisch argumentieren kann. Das war mir wichtig. Es kam hinzu, dass ich das Eintreten für andere Menschen, das ja mit anwaltlicher Tätigkeit immer verbunden ist, gut fand.

Gab es schon vor Ihnen Jurist*innen in der Familie?

Nein. Mein Bruder und ich sind die ersten, die überhaupt studieren konnten.

Mit 17 sind Sie als Austauschschülerin für ein Jahr nach Chile gegangen. Viele andere wollen für ihr Auslandsjahr unbedingt in die USA gehen. Was war der Grund für Chile?

Es war kein Jahr, sondern nur viereinhalb Monate. Vorher war meine Austauschschwester ebenso lange in meiner Familie. Die USA haben mich überhaupt nicht interessiert. Aber Chile war damals, 1972, sehr spannend. Dort war die Unidad Popular mit Salvador Allende an der Regierung, ein Bündnis aus Sozialisten, Kommunisten und mehreren kleinen linken Parteien. Es war der Versuch, den Sozialismus auf demokratischem Weg zu errichten, und den wollte ich aus der Nähe kennenlernen.

Wie haben Sie das Land erlebt?

Meine Gastfamilie hat mir die Gelegenheit gegeben, so viel wie möglich vom Land und von der politischen Situation in diesem Jahr 1972 kennenzulernen. Wir haben das Parlament besucht, die Universität oder beispielsweise Kleinbauern, die auf enteignetem Großgrundbesitz wirtschaften durften.

Hat Sie Ihr Chile-Aufenthalt politisiert?

Ja, sehr. Ich kam ja aus der beschaulichen süddeutschen Provinz in die Hauptstadt eines sich im Umbruch befindlichen Landes. Ich habe erlebt, dass man im Bus sitzt und die Leute miteinander über Politik sprechen. Oder auf den Schulfluren …

Wie wurde da über Politik diskutiert?

Das hing davon ab, wie man zur Unidad Popular stand. Jedenfalls wurde sehr intensiv und überall diskutiert, das kannte ich aus Deutschland so nicht.

Ein Jahr nach Ihrer Rückkehr gab es den Militärputsch in Chile. Was bedeutete das für Ihre Gastfamilie?

Es war verheerend. Eine Tante meiner Austauschschwester verlor sofort ihren Job an der Uni. Deren Tochter wurde auch von der Uni geschmissen. Ein Onkel, Arzt und Mitglied des ZK der Kommunistischen Partei, wurde am 11. September 1973 im Präsidentenpalast festgenommen und verschwand. Die Familie hat später erfahren, dass er auf bestialische Weise umgebracht wurde. Nach dem Ende der Militärdiktatur wurden der Familie einige Knochen von ihm übergeben, die über DNA identifiziert worden waren. Viele Angehörige meiner Gastfamilie gingen ins Exil. Meine Austauschschwester musste dies sogar noch im Jahr 1986 tun.

Später zog sich die juristische Aufarbeitung der chilenischen Militärdiktatur wie ein roter Faden durch Ihre anwaltliche Tätigkeit. Erzählen Sie doch einmal, was Sie da juristisch erreicht haben.

Ich habe in den 90er Jahren dem spanischen Kollegen zugearbeitet, der dort Opfer der chilenischen Militärdiktatur vertrat. Ich habe für das Verfahren Zeugen in Deutschland gesucht, die dann in Spanien vernommen wurden. Meine Zuarbeit war allerdings nur ein sehr bescheidenes Puzzleteil. Aufgrund des spanischen Verfahrens wurde Pinochet 1998 in London festgenommen. Er hatte sich dort zur medizinischen Behandlung hin begeben. Den Rest kennen Ihre Leser wahrscheinlich: Pinochet saß in London zuerst in Haft, dann im Hausarrest. 2000 ließ ihn Großbritannien aus »gesundheitlichen Gründen« nach Chile ausreisen, wo er aber bis zu seinem Tod 2006 nicht mehr so ungestört leben konnte wie vor seiner Reise nach London. Ebenfalls 1998 habe ich Anzeige gegen Pinochet und seine Folterer für einen Deutsch-Chilenen erstattet, der 1974 in Chile verhaftet und übel gefoltert worden war. Zunächst in Deutschland, das Verfahren wurde dann an Chile abgegeben. Fast 20 Jahre später gab es dort ein rechtskräftiges Urteil gegen die Folterer und eine Entschädigung für die Familie meines dann schon verstorbenen Mandanten. Pinochet war da bereits tot. Und dann war da noch das juristisch traurige Kapitel mit der Colonia Dignidad 

Einer deutschen Sekte, die 1961 mit vielen Erwachsenen und Kindern nach Chile auswanderte. Die Bewohner*innen der Siedlung wurden auf dem Gelände eingesperrt, mussten wie Sklaven Zwangsarbeit leisten und wurden misshandelt.

Ja, und während der Militärdiktatur diente das abgeriegelte Areal der Sekte auch als Stützpunkt des chilenischen Geheimdienstes. Viele politische Gefangene wurden dort gefoltert und umgebracht. Der Sektenarzt Hartmut Hopp wurde 2006 in Chile wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch verurteilt. Er floh nach Deutschland. Alle meine Versuche zu bewirken, dass die deutsche Justiz ihn belangen soll, scheiterten leider. Ich habe beispielsweise für zwei Sektenopfer eine Strafanzeige gestellt, weil sie – wie viele andere Bewohner der Colonia Dignidad – jahrelang mit Psychopharmaka vollgepumpt wurden. Es gab Anzeigen wegen des Mordes an politischen Gefangenen auf dem Sektengelände. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat in zweiter Instanz den Antrag Chiles abgelehnt, die dort gegen Hopp rechtskräftig ergangene Haftstrafe in Deutschland zu vollstrecken.

Die Kritik an der chilenischen Militärdiktatur ist im politisch linken Spektrum ungeteilt. Vietnam nennt sich Sozialistische Republik. Aufgrund dieser Selbstbezeichnung fällt es manchen Menschen aus diesem Spektrum schwer, Kritik an der Regierung in Hanoi zu äußern. Wie sehen Sie das?

Ich verorte mich politisch links und habe selbst während des Vietnamkrieges gegen den verbrecherischen Krieg der USA demonstriert. Aber wir haben uns mit Vietnam damals nicht solidarisiert, um ein autoritäres Staatsverständnis zu begrüßen. Wir sollten nicht die Augen davor verschließen, dass auch Staaten, die sich sozialistisch nennen, linken Ansprüchen nicht genügen. Im Falle von Vietnam kann ich vieles nicht gut finden – fehlende Meinungsfreiheit, Todesstrafe zum Beispiel. Es tut keinem politischen System gut, wenn man Kritiker zu Staatsfeinden erklärt und sie massiv verfolgt. Für den Fall meines Mandanten möchte ich noch sagen: Es ist völlig inakzeptabel, wenn ein Staat einen Mann entführt, den er durch einen Auslieferungsantrag – zu Recht – nicht überstellt bekam. Staaten müssen sich an gemeinsam erarbeitete internationale Regeln halten. Was passiert, wenn man die verletzt, sehen wir gerade am russischen Krieg in der Ukraine.

Ihr Mandant wurde 2018 vor dem Hanoier Volksgericht von vietnamesischen Anwälten vertreten, mit denen Sie von Berlin aus in Kontakt standen. Wie haben Sie dabei das vietnamesische Rechtssystem erlebt?

Als katastrophal. Mein Mandant konnte mit seinen vietnamesischen Anwälten nie ohne Aufpasser sprechen. Das ist nach meinem Verständnis von Verteidigung indiskutabel. Die Anwälte hatten auch erst nach Abschluss der Ermittlungen Zugang zu unserem Mandanten. Ich kann in Deutschland von Beginn der Ermittlungen an den Mandanten zur Seite stehen. Hinzu kommt, dass Nguyen Phu Trong, der Chef der Kommunistischen Partei Vietnams und damit der mächtigste Mann im Staat, meinen Mandanten lange vor dem Urteil öffentlich vorverurteilt hat. Was das in Vietnam für die richterliche Unabhängigkeit bedeutet, liegt auf der Hand.

Was fordern Sie denn von der Regierung in Hanoi für Ihren Mandanten?

Dass er so schnell wie möglich freikommt. Seine Haft ist aus völkerrechtlicher Sicht Unrecht.

Ein Entführungshelfer wurde 2018 vor dem Berliner Kammergericht zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Die hat er mittlerweile verbüßt und ist wieder auf freiem Fuß. Seit Juni sitzt in Berlin ein weiterer mutmaßlicher Helfer in Untersuchungshaft. Wie kam es nach so langer Zeit zu der Festnahme?

Wir reden hier von einem vietnamesischen Mann, der meinen Mandanten während der Entführung auf einer Teilstrecke gefahren haben soll. Dieser Mann lebte bis zur Entführung in Prag. Er hat sich 2017 seiner Festnahme durch Flucht nach Vietnam entzogen. Wir dachten lange Zeit, er bleibe auch in Vietnam. Aber Menschen machen Fehler. Er wollte jedenfalls im Frühjahr nach Tschechien einreisen, wurde bei der Einreise in Auslieferungshaft genommen und dann nach Deutschland ausgeliefert. Hier wartet er jetzt auf seinen Prozess. Der wird wieder vor dem Berliner Kammergericht stattfinden, ich rechne im Herbst damit.

In den 90er Jahren haben Sie sich juristisch und politisch für ein Bleiberecht für DDR-Vertragsarbeiter*innen eingesetzt. Die Bundesregierung hatte in den Einigungsvertrag mit der DDR geschrieben, dass Menschen aus Vietnam, Angola, Kuba und Mosambik nach dem Ende der mit der DDR vertraglich vereinbarten Zeit, also irgendwann Anfang der 90er Jahre, wieder ausreisen sollen. Was hat Sie motiviert, sich für das Gegenteil einzusetzen?

Als Juristin mit dem Schwerpunkt Migrationsrecht habe ich Parallelen gesehen zu den »Gastarbeitern« der Bundesrepublik. Die hatten anfangs auch nur einen befristeten Aufenthalt. Die Rechtsprechung hat dann für ein dauerhaftes Bleiberecht gesorgt. Viele Vertragsarbeiter hatten sich nach dem Ende der DDR auch kleine Imbissstände oder Läden aufgebaut. Da konnte man doch nicht einfach nach ein paar Jahren sagen, so das war es, jetzt müsst ihr nach Vietnam zurück.

Unser Interview findet an einem Freitag nach 17 Uhr statt. Das zeigt, wie voll Ihr Terminkalender ist. Was machen Sie eigentlich, wenn Sie Freizeit und Urlaub haben?

Das ist jetzt aber eine indiskrete Frage. Aber gut: Mein persönliches und soziales Umfeld ist mir wichtig und ich nutze meine freie Zeit für Familie und Freunde. Ich kann auch wunderbar entspannen, wenn ich ein Fußballspiel gucke. Vor Corona bin ich gern nach Lateinamerika gereist. Ich liebe auch die Insel Rügen.

Sie werden in diesem Jahr 67 Jahre alt. Ist die Rente schon ein Thema für Sie?

Ich bin auf der Suche nach jemandem, der die Hauptverantwortung für meine Anwaltskanzlei übernimmt. Einige mir besonders wichtige Fälle möchte ich aber noch weiterführen. Und ich habe auch sonst noch etwas vor im Leben: Ich möchte gern literarische Übersetzungen aus dem Spanischen fertigen. Ich bin ja auch vereidigte Dolmetscherin für Spanisch. Und ich habe oft über die Jahre von Freundinnen und Kollegen gehört, ich solle manche Geschichten aufschreiben, die ich in meiner Berufstätigkeit erlebt habe. Das würde ich auch gern tun. Im Moment fehlt mir dazu die Zeit.

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