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Politik des gleichen Abstands – eine Illusion?
Holger Michael über die polnische Außenpolitik zwischen den Kriegen
Die Tragödie der Polen ist ihre Geografie, schrieb einst der Schweizer Schriftsteller Max Frisch. Eine treffende Einschätzung.
Der 1949 geborene Holger Michael, der in Polen studiert hat, versteht sein Buch über Polens Außenpolitik zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als eine populärwissenschaftliche Analyse. Ein Foto des Empfangssaals des Außenministeriums in Warschau ziert den Buchdeckel. Innerhalb von vier Jahren – von der Unabhängigkeit Polens 1918 bis zur Festlegung der Grenzen des Landes beziehungsweise bis zur Wahl des Präsidenten im Dezember 1922 – gaben sich acht Außenminister in Folge die Klinke in die Hand. Allein dieser Fakt ist schon ein Hinweis auf die äußerst komplizierte Lage, in der sich Polen befand. Die folgenden Jahre wechselten sich noch einmal fünf Männer im auswärtigen Amt ab.
Nach 123 Jahren Fremdherrschaft, aufgeteilt unter Preußen/Deutschland, Österreich und dem zaristischen Russland, kehrte Polen am 11. November 1918 mit der Erlangung staatlicher Unabhängigkeit als Republik nach Europa zurück. Großen Anteil daran hatte der auch heute noch in Polen mythisch verehrte Józef Piłsudski (1867–1935), der bis zu seinem Tode die polnische Zwischenkriegszeit in verschiedenen Funktionen als Staatschef, Oberbefehlshaber, Kriegsminister, Ministerpräsident und letztendlich ab 1926 als Diktator prägte. Innenpolitisch musste das lange geteilte Land, dessen sozial-ökonomische und kulturelle Entwicklung in den verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich verlaufen war, zusammenwachsen. Zudem galt es nicht fixierte Grenzen zu sichern. Anfang der 1920er Jahre kam der Krieg mit Sowjetrussland hinzu. In allen Konflikten diente der Schutz nationaler Minderheiten als Begründung.
Polens Westgrenze war in dem den Ersten Weltkrieg beendenden Versailler Vertrag festgelegt worden, der im Januar 1920 in Kraft trat. Als Verhandlungsführer hatte Piłsudski den Nationaldemokraten Roman Dmowski (1864–1939) eingesetzt, eigentlich einer seiner politischen Konkurrenten. Dieser hatte Erfolg. Polen erhielt den größten Teil der Provinz Posen sowie die westlichen Teile Westpreußens mit Zugang zur Ostsee. Für kommenden Zündstoff in den deutsch-polnischen Beziehungen sorgten allerdings die Festlegungen zu Danzig/Gdansk als freie Stadt, die dem Völkerbund unterstellt wurde, sowie die Volksabstimmung in Oberschlesien, die 1922 Polen den größten Teil des oberschlesischen Industriereviers bescherte. Im Osten hatte inzwischen die Oktoberrevolution für eine geschichtliche Eruption gesorgt, der ein blutiger Bürgerkrieg in Russland folgte. Der Westen, dort auf den Sieg der Konterrevolution, also der »Weißen« über die »Roten«, hoffend, zog im Dezember 1919 als vorläufige Demarkationslinie auf der Landkarte die sogenannte Curzon-Linie. Der zwei Jahre darauf ausgehandelte Friedensvertrag von Riga 1921 schrieb die polnisch-sowjetrussische Grenze schließlich rund 150 Kilometer östlich dieser fest.
Unter den zahlreichen polnischen Außenministern amtierte Józef Beck (1894–1944), ein Vertrauter Piłsudkis, am längsten. Sein Name ist eng mit der »Politik des gleichen Abstands« ab 1926 verbunden. Das hieß, Neutralität gegenüber Deutschland und der Sowjetunion sowie kein Bündnis mit den einen gegen die anderen. Der Autor wertet dies als eine Illusion unabhängiger Außenpolitik. In der Tat war diese Konzeption letztendlich zum Scheitern verurteilt, die Nichtangriffspakte mit den jeweiligen Seiten waren zum Schluss nicht das Papier wert, auf das sie geschrieben waren. Holger Michael schätzt die polnische Außenpolitik insgesamt als konstant, konsequent und berechenbar ein. Mit einer Ausnahme: die für die Öffentlichkeit überraschend erfolgte polnische Besetzung des Olsa-Gebietes 1938 im Zuge der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitlerdeutschland. Polen rückte dadurch außenpolitisch an die Seite der Nazidiktatur, was das Bündnis Frankreichs mit Polen belastete.
Ärgerlich ist, dass Holger Michael hin und wieder in alte sowjetische Denkmuster verfällt, die in den letzten Jahrzehnten von seriösen Historikerinnen und Historikern längst aufgebrochen wurden. Deutlich wird dies im Kapitel »Der Nichtangriffsvertrag um Polen«, eine freundliche Umschreibung des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 mit seinem von der Sowjetunion lange als Fälschung deklarierten »Geheimen Zusatzprotokoll«, das die Aufteilung Polens durch Nazideutschland und die Sowjetunion im Falle eines Krieges vereinbarte. Der Autor erwähnt zwar, dass dieses Dokument internationales Recht ignorierte, hält zugleich aber an der dort sowjetischerseits eingebrachten Begründung fest, dass mit der Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee die belorussische und ukrainische Bevölkerung geschützt werden sollte. Die verheerenden Folgen für die in den östlichen Landesteilen lebenden Polen, die 40 Prozent der dortigen Bevölkerung ausmachten im Zuge des Einmarsches der Roten Armee knapp drei Wochen nach dem deutschen Überfall, werden von ihm nicht erwähnt. 1,5 Millionen polnischer Männer, Frauen und Kinder wurden nach Sibirien und Kasachstan deportiert, 4000 polnische Offiziere auf Geheiß Stalins in Katyn ermordet. Insgesamt waren es sogar 22 000 bis 25 000 polnische Berufs- und Reserveoffiziere.
Schaut man sich das Literaturverzeichnis an, so ist auffällig, dass der Autor sich auf Publikationen aus den 70er und 80er Jahren stützt, neuere Bücher aus der letzten Dekade kommen leider nicht vor. Ein Personenverzeichnis wäre wünschenswert gewesen bei der Vielzahl der genannten Namen, um Querverbindungen beim Lesen rekapitulieren zu können. Bedauerlich ist vor allem, dass auf Kartenmaterial verzichtet wurde, gerade weil es vornehmlich um Grenzkonflikte, -festlegungen und -verläufe sowie bewaffnete Auseinandersetzungen geht.
Holger Michael: Zwischen den Kriegen. Polens Außenpolitik 1919–1939. Edition Ost, 416 S., geb., 30 €.
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