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- Grüne und Atomkraft
Entdeckung der Langsamkeit
Die Grünen sind nicht mehr strikt gegen AKW-Laufzeitverlängerungen
Die Äußerungen von führenden Grünen-Politikern deuten darauf hin, dass längere Laufzeiten der in Deutschland verbliebenen Atomkraftwerke nicht an ihnen scheitern würden. In München plädieren die Grünen mit der SPD bereits dafür, dass das Atomkraftwerk Isar 2 länger am Netz bleiben könnte. Offensichtlich haben sie das mit Bundespolitikern der Grünen abgesprochen. Entscheidend wird sein, wie die Ergebnisse des zweiten Stresstests ausfallen, den das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck in Auftrag gegeben hat. Bei diesem Test wird die Versorgungssicherheit beim Strom überprüft.
Manch ein Beobachter, der mit den Grünen noch immer Menschen in selbstgestrickten Pullovern, mit Strickzeug in der Hand und langen Bärten assoziiert, wird sich darüber wundern. Zumal die Partei jahrelang gegen die Nutzung der Kernenergie protestiert hat. Doch sie hat in den vergangenen Jahren einen Wandel vollzogen. Die Grünen vertreten schon lange nicht mehr die Forderungen der Umweltbewegung in den Parlamenten. Stattdessen gehören sie mittlerweile zum Establishment und sehen in den Industrieunternehmen nicht mehr Gegner, sondern Partner.
In dieser Rolle haben die Grünen die Langsamkeit für sich entdeckt. Selbstverständlich wollen sie, dass die Bundesrepublik bei Strom und Wärme komplett auf erneuerbare Energien umsteigt. Doch das Tempo hierfür sollen die Unternehmen vorgeben. Die Grünen würden nie Forderungen stellen, gegen die der polemische Vorwurf erhoben werden könnte, sie gefährdeten den deutschen Wirtschaftsstandort. Deswegen wird es noch sehr lange dauern, bis die Energiewende vollständig vollzogen ist. Anstatt klare Vorgaben zu machen, dass strenge Umweltstandards eingehalten werden müssen, werden die Chefs großer Unternehmen von den Grünen bezirzt.
Deren Energiehunger soll nach Ansicht der Bundesregierung auch in Krisenzeiten gestillt werden. Die schmutzigen Kohlekraftwerke und womöglich auch die Atommeiler gewinnen vor allem deswegen an Bedeutung, weil die Erdgasversorgung aus Russland seit dem Krieg in der Ukraine unsicher geworden ist. Habeck und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sind zwar schon bei einigen Diktatoren vorstellig geworden, etwa in Aserbaidschan und Katar, um sich das Gas aus diesen Ländern zu sichern, aber so schnell und reibungslos, wie sich das manche deutschen und europäischen Politiker wünschen, geht es nicht mit den Geschäften und Lieferungen. Skrupel, mit diesen Ländern, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, Deals abzuwickeln, haben weder die Grünen noch die EU-Kommission.
Um dahin zu kommen, wo sie jetzt sind, mussten die Grünen nicht nur Frieden mit der Industrie, sondern auch mit Parteien aus dem liberal-konservativen Spektrum schließen. Ein wichtiger Schritt bei dieser Entwicklung war der Sonderparteitag im Jahr 2011, bei dem die Grünen über ihre Haltung zum schwarz-gelben Ausstieg aus der Kernenergie entschieden. Obwohl diverse Verbände und der damalige Chef des Umweltbundesamtes, Jochen Flasbarth, nach dem Gau im japanischen Atomkraftwerk Fukushima erklärten, dass Deutschland bis 2017 aus der Kernenergie aussteigen könne, stimmten die Grünen auf dem Parteitag mit knapper Mehrheit dafür, das Vorhaben von Kanzlerin Angela Merkel zu unterstützen, wonach die Meiler erst im Jahr 2022 abgeschaltet werden. Das gilt bis heute und entsprach den einstigen rot-grünen Plänen, die Merkel vor Fukushima rückgängig machen wollte.
Anstatt für ein frühes Ende der Atomkraft zu kämpfen, das weniger Gefahren und radioaktiven Müll bedeutet hätte, biederten sich die Grünen an. Nicht wenige Umweltaktivisten haben ihnen deswegen den Rücken gekehrt. Die Hauptziele der Partei und ihrer Wählerschaft haben sich verschoben. Die Umweltpolitik steht nicht mehr an erster Stelle, sondern der Konflikt mit Russland. Einstige Wahlversprechen der Grünen, wonach Deutschland keine Waffen in Kriegsgebiete liefern soll und die Partei hinter dem Ausstieg aus der Kernenergie in diesem Jahr steht, sind vor diesem Hintergrund nicht mehr viel wert.
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