Die Chemie des Lebens

Vor 125 Jahren starb der deutsche Naturforscher Friedrich Wöhler

Anfang des 19. Jahrhunderts hatten Wissenschaftler die Natur streng zweigeteilt: in die unbelebten Dinge einerseits und die lebendigen Geschöpfe andererseits. Die philosophische Theorie dazu lieferte der sogenannte Vitalismus, der allen Pflanzen und Tieren eine geheimnisvolle Lebenskraft (vis vitalis) zuschrieb. Ohne diese Kraft, so hieß es, könne aus anorganischen Bestandteilen niemals eine organische Substanz entstehen. Das dachte zunächst auch der deutsche Chemiker Friedrich Wöhler, der am 31. Juli 1800 in Eschersheim bei Frankfurt (Main) geboren wurde. Er studierte Medizin in Marburg und Heidelberg. Anschließend reiste er für ein Jahr zu dem berühmten schwedischen Gelehrten Jöns Jakob Berzelius nach Stockholm, um seine Kenntnisse in der analytischen Chemie zu vertiefen. Ab 1825 unterrichte Wöhler an der Gewerbeschule in Berlin und wurde hier 1828 zum Professor berufen. Im selben Jahr gelang ihm eine wichtige Entdeckung, wie er Berzelius in einem Brief nicht ohne Stolz mitteilte: »Ich muß Ihnen sagen, daß ich Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren oder überhaupt ein Thier, sey es Mensch oder Hund, nöthig zu haben.« Im Klartext: Wöhler hatte die anorganische Verbindung Ammoniumcyanat durch Erhitzen in organischen Harnstoff überführt und damit, wie Justus von Liebig später erklärte, die »wissenschaftliche organische Chemie« begründet. Wöhler und Liebig - diese Namen werden heute oft in einem Atemzug genannt. Doch es gab auch eine Zeit, da beide Forscher sich heftig befehdeten. Das war um 1820, als allgemein der Grundsatz galt, dass Stoffe mit gleicher chemischer Zusammensetzung auch gleiche Eigenschaften besitzen. Demnach hätte die Analyse von Silbercyanat, die Wöhler 1822 durchführte, zu einem anderen Resultat führen müssen als die Analyse von Silberfulminat, die Liebig ein Jahr darauf vornahm. Denn Fulminate und Cyanate weisen unterschiedliche Eigenschaften auf. Beide Analysen erbrachten indes die selbe Zusammensetzung, woraufhin Liebig seinem Kollegen vorwarf, er habe schlampig gearbeitet. Doch wenig später schon konnten die Forscher das merkwürdige Phänomen erklären: So wie durch unterschiedliche Verknüpfung von Buchstaben verschiedene Wörter entstehen, führt die unterschiedliche Verknüpfung von Atomen zu verschiedenen Stoffen. So ist, um ein Beispiel zu nennen, HOCN = Cyansäure und HCNO = Knallsäure. Der Chemiker spricht hier von Isomerie, nach deren Entdeckung Wöhler und Liebig Freunde fürs Leben wurden. Gemeinsam publizierten sie über Benzoesäure, Bittermandelöl und chemische Radikale, und gemeinsam gaben sie ab 1838 die »Annalen für Chemie und Pharmacie« heraus, die damals wichtigste chemische Zeitschrift der Welt. Aber auch als »Einzelkämpfer« war Wöhler äußerst erfolgreich: Er isolierte erstmals die Elemente Aluminium und Beryllium in reiner Form. Und nur eine Laborvergiftung verhinderte, dass er überdies zum Entdecker des Elements Vanadium wurde. Mit seiner Arbeit über Calciumcarbid legte er den Grundstein für die rasch aufstrebende Carbidindustrie und das autogene Schweißen. Er entwickelte eine Methode zur Phosphorherstellung, die noch heute gebräuchlich ist. Mitunter wird Wöhler sogar als Urvater der Halbleitertechnik bezeichnet, da er 1856 zum ersten Mal kristallines Silizium herstellte. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Lehrbücher über organische und anorganische Chemie, die rasch zu Klassikern wurden. Sogar unsere Alltagssprache hat der Entdecker der Harnstoffsynthese bereichert, prägte er doch das geflügelte Wort: »Probieren geht über studieren«. Im Jahr 1831 verließ Wöhler die Berliner Gewerbeschule und lehrte bis 1836 am Polytechnikum in Karlsruhe. Danach ging er als Professor für Chemie und Pharmazie an die Universität Göttingen, welcher er bis zu seinem Tod treu verbunden blieb. Er s...

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