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Grüne Inseln der Stadt
Mit Superblocks setzt Barcelona modellhaft auf Verkehrsberuhigung und Naherholung
Eine Gruppe mit Kindern sitzt auf einem Holzplateau und schaut auf ein Smartphone, aus dem laute Videos scheppern, ein Mann macht auf einer Bank, neben der er sein Fahrrad abgestellt hat, eine kleine Pause, zwei Frauen haben sich im Laden ums Eck gerade Erdmandelmilch to go geholt und suchen nun ein Plätzchen im Schatten. Die Terrassen der Bars rund um den Platz sind in der trägen Nachmittagshitze des Mittelmeersommers nur mäßig gefüllt, ein paar Schritte die Straße runter fordern sich Schachspieler*innen an drei Tischen zum Duell heraus, während eine Traube von Interessierten um sie herumsteht und ihnen über die Schulter schaut. In seiner Ruhe und Beschaulichkeit fühlt sich dieser Platz auf der Kreuzung der Straßen Carrer del Parlament und Carrer del Comte Borrell im zentral gelegenen Viertel Sant Antoni in Barcelona fast dörflich an.
Ob es um Architektur, um Kultur, das Wetter, Essen oder das Meer geht – eigentlich ist Barcelona eine in vielerlei Hinsicht lebenswerte Stadt. Aber an einer Sache mangelt es der katalanischen Metropole gewaltig: An Parks und Grünflächen, Orten also, an denen man sich entspannt treffen kann, ohne Geld ausgeben zu müssen (wie in etwa einer Kneipe). Seit ein paar Jahren, genauer seit 2015, als die heute 48-jährige Ada Colau nach dem Wahlsieg von Barcelona en Comú, dem katalanischen Ableger der Linkspartei Podemos, Bürgermeisterin wurde, ändert sich das langsam. Inzwischen hat die Stadt mehrere verkehrsberuhigte und zu Plätzen umgewandelte Straßen und Kreuzungen, auf denen gleichermaßen Anwohner*innen wie Tourist*innen chillen, Kinder mit dem Ball kicken, es gibt Schachtische, Bänke und Paletten zum Ausruhen, ausreichend Mülltonnen und eine grüne Bepflanzung.
Stadterweiterung im 19. Jahrhundert
Um zu verstehen, was sich in Barcelona derzeit ändert, muss man zunächst das Straßensystem der Stadt verstehen. Im 19. Jahrhundert platzte das historische Zentrum mit seinen engen Gassen und zahlreichen Gebäuden aus dem späten Mittelalter, die Ciutat Vella (Katalanisch für Altstadt), aus allen Nähten. Eingeschränkt durch die Stadtmauern gab es zu wenig Platz für neue Wohnungen, Seuchen grassierten, es mangelte an Infrastruktur für die Bewohner*innen. Idelfons Cerdà (1815-1876), Stadtplaner und Zeitgenosse des bekanntesten Sohns von Barcelona, Antoni Gaudí, entwarf ein Konzept dafür, wie eine erweiterte Stadt aussehen könnte, um möglichst vielen Menschen einen modernen Lebensstil mit viel Licht und Luft zu ermöglichen. Ein zu jenen Zeiten fast utopischer Entwurf.
Der mondäne Bezirk Eixample (»Erweiterung« auf Deutsch) umfasst knapp 7,5 Quadratmeter und ist heute im Zentrum Barcelonas gelegen. Charakteristisch sind seine achteckigen Häuserblocks, die rigide wie ein Schachbrettmuster angelegt sind. Der sogenannte Plan Cerdà, den der Stadtplaner 1855 erstmals in Madrid vorstellte und der 1860 endgültig genehmigt wurde, sah viele Grünflächen in diesem Schachbrettmuster vor. Im heutigen Eixample sind diese so gut wie gar nicht zu finden – Idelfons Cerdà hatte Mitte des 19. Jahrhunderts logischerweise nicht bedacht, dass man zukünftig dem Autoverkehr Vorrang geben würde.
Dank dieser besonderen quadratischen Architektur des Eixample ist es in der Gegenwart aber mit sehr einfachen Maßnahmen möglich, mehr oder weniger im Sinne von Cerdà zu handeln und nachträglich Naherholungsräume zu schaffen: Jeweils neun der Häuserblocks werden einem Tic-Tac-Toe-Spiel gleich zusammengefasst, der Verkehr ringsherum geleitet und die Straßen in der Mitte zu Fußgängerzonen umgewandelt. Die auf den Kreuzungen entstandenen Plätze sind rund 2000 Quadratmeter groß. »Superilles« nennen sich diese Straßenzüge, zusammengesetzt aus dem Wort »Super« und »illa« beziehungsweise »illes« im Plural, das katalanische Wort für Insel; im internationalen Kontext sind sie auch als »Superblocks« bekannt.
Verbesserte Bedingungen
»Es handelt sich dabei um eine städtebauliche Idee, die im Wesentlichen darin besteht, die Mobilität in einem städtischen Gebiet neu zu organisieren und dem öffentlichen Verkehr, den Radfahrern und Fußgängern Vorrang einzuräumen und bestimmte Straßen vom Autoverkehr zu befreien«, erläutert Xavi Matilla gegenüber »nd« das Prinzip der Superilles. Xavi Matilla ist seit Oktober 2019 der offizielle Stadtarchitekt Barcelonas, die Superilles sind sein Herzensprojekt. »Es sollen mehr städtisches Grün und Möglichkeiten für ein soziales Zusammenleben geschaffen werden. Die Idee ist, den Raum, der jetzt von Autos genutzt wird, für bessere Umweltbedingungen und ein größeres Gemeinwohl für die Menschen umzugestalten. Unser Ziel lautet, eine gesündere Stadt zu schaffen.«
Verbesserte Umweltbedingungen und die Aussicht auf mehr Gesundheit haben die Stadt auch bitter nötig. Die Luft ist massiv verschmutzt; in Barcelona (wie auch in Madrid) werden die europaweit festgelegten Schadstoffgrenzwerte regelmäßig überschritten (50 Mikrogramm pro Kubikmeter, wo die Weltgesundheitsorganisation WHO ein Maximum von 40 Mikrogramm empfiehlt), was Statistiken zufolge zu 3500 vorzeitigen Toten im Großraum Barcelona führt – und das pro Jahr. Am schlimmsten ist es um das Eixample bestellt, den Bezirk mit dem geringsten Anteil an öffentlichen Räumen und der höchsten Umweltbelastung.
Zudem stehen Barcelones*innen durchschnittlich nur 6,6 Quadratmeter, in Innenstadtvierteln sogar nur 1,85 Quadratmeter an Grünfläche zur Verfügung. Zum Vergleich: In Wien sind es 95, in Prag sogar 220 und in Potsdam, der grünsten Stadt Deutschlands, immerhin noch 33 Quadratmeter. Laut einer Studie, die das Rathaus Barcelona im September 2021 veröffentlichte, haben die Superilles in der Tat positive Effekte auf die Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden. Vor allem in Sant Antoni, Teil des Eixamples und inzwischen Vorzeigeviertel für die Superilles, habe die Lärmbelastung abgenommen, während die Luftverschmutzung sogar um ganze 25 Prozent zurückgegangen sei.
Als Pilotprojekt wurde im September 2016 eine Straßenkreuzung im Viertel Poblenou zum ersten Superblock umorganisiert, Superilles in weiteren Vierteln folgten. Der Plan von Xavi Matilla und der Stadt ist sehr ambitioniert: Mehr als 500 Superilles sollen im Laufe der kommenden Jahre gestaltet werden. Zu Beginn gab es nicht wenig Protest durch die Anwohner*innen. Besonders fürchtete man, durch den umgeleiteten Verkehr längere Arbeitswege zu haben, außerdem Lärm und Schmutz durch jene, die die Superblöcke als Ort ihrer Freizeitgestaltung nutzen sowie die Gentrifizierung des Viertels. Im Laufe der Jahre haben sich die meisten dieser Bedenken jedoch zerstreut.
Carme, eine Rentnerin, die »schon immer« in der Carrer del Parlament im Viertel Sant Antoni lebt, hat ebenfalls ein wenig gebraucht, um sich an die Superilla vor ihrer Haustür zu gewöhnen. »Nachts machen Jugendliche, die sich zum Botellón treffen« – ein in Spanien gängiger Begriff für junge Menschen, die sich in größeren Gruppen zum Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen oder am Strand versammeln – »ganz schön Lärm«, kritisiert sie gegenüber »nd«. Aber auch Carme nutzt »ihre« Superilla oft, um sich mit Freundinnen zu verabreden. »Gerade zu Zeiten, als pandemiebedingt alle Cafés geschlossen haben, war das schön.« Spätestens die Zeiten der Pandemie mit den geschlossenen Räumen jenseits der Straßen in Spanien während Corona hat den Großteil der Kritiker*innen vom Sinn der Superilles überzeugt.
Komplett für den Verkehr gesperrt sind die Superilles übrigens nicht; eine Geschwindigkeit von maximal zehn Stundenkilometern ist erlaubt. »Reinigungswagen, die Müllabfuhr, Feuerwehr und Fahrzeuge für Menschen mit Mobilitätsproblemen müssen natürlich immer durchfahren können«, zählt Matilla auf. Auch die Zulieferer für das in den Superblöcken ansässige Gewerbe benötigen Zugang, und der konventionelle Verkehr darf die nicht gesperrten Straßen ebenfalls nutzen, solange er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält. »Das Ziel ist aber, die Menschen zu ermutigen, ihr Auto stehenzulassen und lieber auf die Metro oder den Bus auszuweichen«, sagt der Stadtarchitekt. Stichwort ansässiges Gewerbe: Die Befürchtung, die Geschäfte könnten unter dem reduzierten Verkehr leiden, hat sich nicht erfüllt. »Der lokale Handel und die lokale Wirtschaftsleistung werden dadurch sogar gefördert«, so ein erstes Resümee Xavi Matillas.
Ein Blick in die Zukunft
Bisher also läuft alles sehr gut. In Barcelona hat man aber weiterhin Großes vor. Die Idee der Superblöcke wird nun einen Schritt weitergedacht, um ganze Straßen und nicht nur Abschnitte zu transformieren. Im Eixample werden zunächst in den Straßen Rocafort, Comte Borrell, Gorilla und Consell de Cent auf insgesamt 4,8 Kilometern zusätzliche grüne Achsen entstehen – ein Vorbild für die gesamte Stadt. Der Plan sieht vor, auch diese Straßen zu beruhigen, sprich sie für den Alltagsverkehr zu sperren, die Asphaltierung wird verschwinden und durch sogenannte Panots, die für Barcelona typischen viereckigen Steinfliesen aus dem 19. Jahrhundert mit Blume in der Mitte, ersetzt. Außerdem werden auf den vier Achsen fast 1000 neue Möbelelemente wie Bänke, Stühle, Hocker und Tische installiert und 438 neue Bäume gepflanzt. Generell soll die Bepflanzung von derzeit ein Prozent auf rund zwölf Prozent erhöht werden.
»Die Vision ist, aus ganz Barcelona eine Superinsel zu machen, sodass die grünen Straßen ein Netz in der gesamten Stadt bilden«, schwärmt Xavi Matilla. Seit Juni dieses Jahres wird der Plan schrittweise umgesetzt, im ersten Trimester 2023 sollen die Umbauarbeiten, deren Kosten sich auf planmäßig 52,7 Millionen Euro belaufen, bereits abgeschlossen sein. Sicher ist: Das sind nicht die letzten Straßen und Plätze, die man in der katalanischen Hauptstadt transformiert. Und so ist Barcelona nicht nur ein Vorbild für sich selbst, sondern für alle Städte, in denen zukunftsgerichtet gedacht wird.
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