»Die Mehrheit lebt noch immer in Wellblechhütten ohne Wasser«

Die Lebensbedingungen in Südafrikas Bergarbeitergemeinden haben sich kaum verbessert, sagt der Soziologe Crispen Chinguno

  • Christian Selz
  • Lesedauer: 7 Min.
Behelfsmäßige Unterkünfte für Arbeiter der Platinmine in Marikana.
Behelfsmäßige Unterkünfte für Arbeiter der Platinmine in Marikana.

Am 16. August jährt sich das Massaker von Marikana zum zehnten Mal. 34 streikende Bergarbeiter des Platinproduzenten Lonmin starben damals, als Polizeikräfte mit scharfer Munition das Feuer eröffneten. Was hat Südafrika aus der Tragödie gelernt?

Interview


Der Soziologe Dr. Crispen Chinguno forscht an der Sol Plaatje University in Kimberley, Südafrika. Seine Schwerpunkte sind Arbeit, Gewerkschaften und soziale Bewegungen. In den vergangenen zwölf Jahren hat er sich mit den Entwicklungen im südafrikanischen Platin-Gürtel beschäftigt. Chinguno sagte als Gutachter vor der Farlam-Kommission aus, die mit der Aufarbeitung des Massakers von Marikana befasst war. Mit ihm sprach Christian Selz.

Die erste Erkenntnis ist, dass wir noch immer mit dem Erbe von Apartheid und Kolonialismus zu kämpfen haben. Wir sind noch stark an das Bergbausystem gebunden, das auf der Ausbeutung von Rohstoffen und zugleich auf der Ausbeutung billiger schwarzer Arbeitskräfte beruht. Wir haben vielleicht den Übergang zur Demokratie erreicht, aber was dieses fortbestehende System angeht, stecken wir in der Vergangenheit fest. 28 Jahre nach dem Übergang zur Demokratie sind wir noch immer eines der Länder mit der weltweit höchsten Ungleichheit in der Gesellschaft. Südafrika verfügt über 80 Prozent der globalen Platinvorkommen, aber sie werden von Arbeitern gefördert, die zu den ärmsten der Welt gehören und mit den erbärmlichsten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen haben. Wo sie leben, gibt es kein Wasser, keinen Strom, keine Straßen. Sie fördern Platin für die ganze Welt, aber sie haben nicht einmal das Grundlegendste zum Leben. Das ist eine sehr traurige Situation.

Beim Unternehmen Sibanye-Stillwater, das 2019 Lonmin übernommen hat und heute die Marikana-Mine betreibt, stehen die Zeichen momentan wieder auf Streik. Es geht um Gehaltserhöhungen, die kaum die Lebensmittelinflation ausgleichen. Zuletzt war der Vorstandsvorsitzende Neal Froneman wegen eines Rekordjahressalärs von 300 Millionen Rand in den Schlagzeilen. Mangelt es in den Chefetagen auch schlicht an Fingerspitzengefühl?

Die Gehälter zeigen das Niveau der Ungleichheit. Die Bergbaubosse versuchen zu rechtfertigen, dass der Vorstandsvorsitzende von Sibanye sein hohes Gehalt verdient. Aber um die niedrig bezahlten Arbeiter – und nicht nur die Festangestellten der Minen, sondern auch die über Vertragsfirmen beschäftigten – scheinen sie sich nicht zu kümmern. Die erhalten gerade genug zum Überleben. Das zeigt das Desinteresse an Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Wir bräuchten eine Gesellschaft, die versucht, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit aufzuarbeiten. Die meisten dieser Arbeiter sind schwarze Arbeiter und das ist ja kein Zufall.

Denken Sie, es wäre für ein privates, börsennotiertes Unternehmen, das Profit machen muss, überhaupt möglich, diese Probleme zu beheben?

Die Farlam-Kommission (Untersuchungskommission zum Massaker von Marikana, Anm. d. Red.) hat den klaren Nachweis erbracht, dass die Unternehmen etwas zur Lösung beitragen könnten und dennoch weiter Profit machen können. Es gibt Belege dafür, dass Sibanye die finanzielle Kapazität hat, das Leben der Menschen, die in den Minen arbeiten und dort leben, zu verbessern. Aber Sibanye ist in der Hinsicht noch schlimmer als Lonmin. Es ist, als ob das Rad zurückgedreht wird. Es gibt kaum Respekt für die Anliegen der Arbeiter, sondern Sibanye unternimmt gezielte Schritte, um Arbeiter zum Schweigen zu bringen. Unternehmensvertreter gehen ganz bewusst vor, um die kollektive Stimme der Arbeiter zu untergraben und die Arbeiter in unterschiedliche Lager zu spalten, um insbesondere die Vollzeitbeschäftigten von den Vertragsarbeitern bei Subunternehmen zu trennen. Arbeiter, die sie als engagiert einordnen, werden bestraft, beispielsweise indem man sie an andere Minen des Konzerns versetzt.

Wenn Sie sagen, Arbeiter verdienen kaum genug zum Überleben: Wie drückt sich das in Zahlen aus, was verdient ein Bergarbeiter auf der untersten Lohnstufe?

Momentan sollte er etwa 14 000 Rand im Monat (etwa 800 Euro, Anm. d. Red.) verdienen. Aber das gilt nur für diejenigen, die direkt bei den Bergbauunternehmen angestellt sind. Die Arbeiter, die bei Subunternehmen oder Leiharbeitsfirmen angestellt sind, erhalten lediglich 8000 Rand (460 Euro). Das ist das Problem. Die Bergbauunternehmen wollen die Tarife umgehen, deshalb heuern sie Arbeiter über Dritte an. Und so geben sie auch die Verantwortung für die Arbeiter an diese Subunternehmen ab.

Der Streik vor dem Massaker 2012 war auch geprägt durch den Konflikt zwischen der etablierten Gewerkschaft Num und der damals neu aufkommenden, radikaleren AMCU. Nun haben Num und AMCU gemeinsame Abschlüsse bei anderen Platinproduzenten und im Goldbergbau erreicht. Deutet das auf eine neue Einigkeit hin?

Nein. Die Tatsache, dass die AMCU und die Num zusammenarbeiten, bedeutet nicht, dass es eine Einheit unter den Arbeitern gibt, sondern dass die AMCU reifer wird, sprich Teil der Institutionen zur Erhaltung des Status quo. Es gibt inzwischen eine Aufteilung der Belegschaften: Die AMCU organisiert eher die unteren Ebenen, die wenig qualifizierten Arbeiter, und die Num verlegt sich mehr auf die gut ausgebildeten, höheren Berufsgruppen. Durch diese klare Aufteilung gibt es keinen Anlass mehr, gegeneinander zu kämpfen. Aber es kommen bereits Probleme: Die Arbeiter haben das Gefühl, dass die Gewerkschaften – auch AMCU – nicht mehr ihre Interessen vertreten, sondern jetzt Teil des Systems sind.

Wenn die neue Trennlinie zwischen festangestellten und bei Subunternehmen angestellten Arbeitern verläuft – wer kümmert sich dann um diese bei Dritten beschäftigten Arbeiter? Wie verschaffen sie sich eine Stimme?

Die Stimme der Vertragsarbeiter ist ziemlich leise. Sie kommen sogar bei den Gewerkschaften zu kurz. Wenn Sibanye Arbeiter entlassen will, sind es die Gewerkschaften, die vorschlagen, dass man erst die Vertragsarbeiter loswerden soll, bevor man über Entlassungen bei der Stammbelegschaft spricht. Für die Bergbauunternehmen bedeuten die Vertragsarbeiter Flexibilität, weil sie sie jederzeit wieder loswerden können. Und den Gewerkschaften mangelt es an einer Strategie. Bei ihrer Fokussierung auf betriebliche Probleme tragen sie große Scheuklappen. Die Gewerkschaften sind in den Gemeinden nicht mehr wirklich verankert, sie haben sich da momentan stark zurückgezogen.

Aber was haben die Gewerkschaften denn seit 2012 erreicht?

Es hat sich etwas verändert bei der Bezahlung, insbesondere für die Arbeiter, die direkt für die Bergbauunternehmen arbeiten. Das kann man der AMCU zugutehalten. Der Journalist Ed Stoddard vom »Daily Maverick« hat dazu recherchiert und er sagt, dass die jährliche Inflationsrate zwischen 2012 und heute bei durchschnittlich fünf Prozent gelegen habe, während die Löhne der Arbeiter durchschnittlich um neun Prozent pro Jahr gestiegen seien. Demnach gibt es also eine Reallohnsteigerung von durchschnittlich vier Prozent. An dieser Front gibt es also eine leichte Verbesserung – aber nur für die Festangestellten der Bergbauunternehmen. Die etwa 25 Prozent der Arbeiter, die über Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen angestellt sind, sind davon ausgeschlossen. Und was die Lebensbedingungen angeht: Da ist sehr wenig verbessert worden. Die Mehrheit der Arbeiter lebt auch zehn Jahre nach Marikana noch immer in Wellblechhütten ohne fließend Wasser. Sibanye hat nur ein paar Wohneinheiten gebaut, für etwa 200 bis 300 Familien, aber das ist bei etwa 25 000 Arbeitern natürlich nicht genug.

Der südafrikanische Staat hat eigentlich die gesetzlichen Möglichkeiten, etwa Wohnungsbauprogramme zur Bedingung bei der Vergabe der Bergbaulizenzen zu machen. Es haperte jedoch in der Vergangenheit an Kontrollen und Konsequenzen bei Verstößen. Wird inzwischen genauer hingeschaut?

So weit ich weiß: nein. Bei der Vergabe der Bergbaulizenzen wird festgelegt, dass die Bergbauunternehmen die Lebensqualität in den Gemeinden an den Minen verbessern müssen. Aber das Problem ist, dass der Staat zu wenig Kapazitäten hat, das Bergbauministerium hat nicht die Ressourcen, um die Einhaltung der Vorschriften sicherzustellen. So kommen die Bergbauunternehmen leicht davon. Sie haben in der Realität mehr Macht als der Staat.

In der Verantwortung stand auch der deutsche Konzern BASF, Hauptabnehmer des Platins von Lonmin – zumal das Unternehmen sich stets mit seinem Einsatz für freiwillige Lieferkettenverantwortung brüstete. Wie macht sich dieser Einfluss bemerkbar?

Die einfachen Leute in den Gemeinden bekommen davon nicht viel mit, obwohl das ein sehr wichtiger Machtbereich für einfache Arbeiter und die Gemeinde wäre. Das Problem ist, dass die Bergbauunternehmen ein wunderbares Bild zeichnen, auch für diejenigen, die ihr Platin kaufen. Aber das entspricht nicht der Realität vor Ort. Es gibt einen großen Unterschied zwischen ihrer Inszenierung und der Praxis ihres Umgangs mit den Gemeinden und den Arbeitern – es liegen Welten dazwischen. Von daher, ja: Es ist sehr wichtig, Druck aufzubauen. Aber irgendwie finden die Bergbauunternehmen immer einen Weg, alles so darzustellen, dass sie hinter jeden Punkt ein Häkchen machen können.

Haben Sie das Gefühl, dass die Platinkäufer diese Dinge wirklich herausfinden wollen und wirklich Druck erzeugen wollen?

Ja, ich denke schon, aber sie sind in ihrem Handeln beschränkt. Sie haben keinen Zugang zu dem, was vor Ort in den Gemeinden im Alltag passiert. Ich denke, man müsste dafür sorgen, dass diese Kräfte in den Gemeinden bekannter werden, damit man zusammenarbeiten kann. Diese beiden Seiten sind noch nicht in Kontakt miteinander. Die Käufer versuchen im Rahmen ihrer Unternehmensverantwortung Druck zu erzeugen, aber es scheitert an der mangelnden Verbindung zu den Arbeitern und den Gemeinden vor Ort.

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