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Im Hinterhof der Milchbar
Von Liebe und Hunden: Olga Hohmanns über ihre Zeit als Austauschschülerin in Frankreich
Als Teenager war ich für drei Monate Austauschschülerin in einer 6000-Einwohner-Stadt in Zentralfrankreich. Direkt gegenüber von dem einzigen Collège, der High School, befand sich der Hauptarbeitgeber der Stadt: Ein gigantisches Eisenhüttenwerk, bei dem über 50 Prozent der Anwohner angestellt waren. Alle Gebäude in der Stadt waren stark angegilbt – und überall roch es leicht metallisch. Anfangs hielt ich es noch für eine Illusion, auch weil »meine« Austauschschülerin, mit der ich dort zusammenwohnte, sagte, sie würde »nichts bemerken«. Aber irgendwann begriff ich, dass es wie in der »Truman Show« war: Sie kannte es einfach nicht anders.
Der Grund, warum sich meine Austauschschülerin explizit dafür eingesetzt hatte, eine Deutsche bei sich zu beherbergen, war, dass sie am liebsten Tokio Hotel und Rammstein hörte. Ihr Lieblingslied von Tokio Hotel war – natürlich – »Durch den Monsun«. Ihr Lieblingslied von Rammstein war »Mein Herz brennt«. Beide sang sie, in unserem Zimmer auf ihrem Bett unter ihren Postern liegend, lautstark in Gibberish mit. Sie sprach kaum ein Wort Deutsch und ich kaum ein Wort Französisch. Ich mochte ihre ganze Familie sehr. Alle drei Kinder hatten amerikanische Vornamen – besonders gut verstand ich mich mit meinem siebenjährigen »Bruder« Te-di, Teddy, wie der Teddybär oder der Ein-Euro-Shop.
Meine Austauschschülerin hatte einen Boyfriend, der ausschließlich die viel zu große Militäruniform seines Vaters trug. Seiner Mutter gehörte die einzige Bar in der Stadt, wir hingen fast jeden Tag nach der Schule ein bisschen am Tresen rum – denn sie gab uns Gläser mit Milch, die sie mit Cassis-Sirup auftoppte. Das einzige Problem war, dass im Hinterhof, auf dem Weg zum Klo, die Hunde des Boyfriends meiner Austauschschülerin in Käfigen eingesperrt waren. Sie gingen den ganzen Tag wie Raubtiere auf und ab, und immer, wenn man an ihnen vorbeiging, fingen sie an, wahnsinnig laut zu bellen und ihre schrecklichen Schnauzen durch die Gitterstäbe zu stecken.
Noch heute erinnere ich mich gut an ihre gnadenlos eiskalt starrenden Augen und den Schaum vor ihren zornverzerrten Mäulern. Wilde Tiere. Ich versuchte, nicht zu viel Milch mit Cassis-Sirup zu trinken, denn ich wollte auf keinen Fall an ihnen vorbeigehen müssen. Ich traute ihnen alles zu. Meine Austauschschülerin und ihr Boyfriend liebten sich sehr, stritten aber jeden Tag. Manchmal, wenn es besonders schlimm wurde, drohte er ihr damit, die Hunde auf sie loszulassen.
Die einzige Frage, die die Wirtin der Milchbar damals beschäftigte, war, ob ich denn schon einen »petit copain« hätte. Ich heulte als Antwort regelmäßig in meine, immer salziger werdende, Milch mit Cassis-Sirup (manchmal auch mit »Menthe« – Pfefferminze). Mein »petit copain« war nämlich in Deutschland und ich rannte jeden Tag in die immer leere Shopping Mall der Kleinstadt, in der sich das einzige Internetcafé befand, um meinem »petit copain« lange Liebeserklärungen bei »SchülerVZ« zu schreiben. Ich befürchtete stark, er würde sich in meiner Abwesenheit in ein anderes, hübscheres Girl verlieben – und verfluchte mich dann für diese Gedanken, von denen ich vermutete, sie könnten sich in eine Self-fulfilling-Prophecy, eine selbsterfüllende Prophezeiung, einen Fluch (des Orakels), verwandeln.
Erst Tage nachdem ich die kleine Stadt in Zentralfrankreich verlassen hatte, verschwand auch der metallische Geruch. Manchmal denke ich noch, dass der Eisenstaub sich irgendwo in meinem Körper abgelagert hat und mich deshalb alles, was glänzt, magnetisch anzieht. Mein Französisch hatte sich bei meinem dreimonatigen Aufenthalt kaum verbessert, denn ich hatte mit fast niemandem gesprochen – ich hatte meine Energie in die vergeblichen (deutschen) Liebesbriefe an meinen nur sporadisch antwortenden »petit copain« auf »SchülerVZ« gelegt. Eine Sisyphosarbeit.
Noch immer verschwende ich regelmäßig meine Kraft, Zeit und einfach Liebe an Boys, die sich dadurch eher überfordert fühlen. Vielleicht sollte ich ein bisschen kaltschnäuziger werden. Oder metallschnäuzig, wie die wilden Tiere im Hinterhof der Milchbar.
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