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Stromrechnungen in den Papierkorb
Briten reagieren mit der Kampagne »Don’t Pay UK« auf die hohen Energiepreise
Jake Cable hat eigentlich einen guten Job, und er ist nicht jemand, der gerne protestiert. Darum blickt der 26-jährige Datenanalyst dem 1. Oktober mit einer Prise Unbehagen entgegen. Ab dem Tag, so hat er entschieden, wird er keine Strom- und Gasrechnungen mehr bezahlen. Cable sieht keine andere Möglichkeit, sagte er gegenüber der britischen Presse. Im vergangenen Winter habe die monatliche Energierechnung für seine Wohnung etwa 200 Pfund betragen. »Aber im kommenden Januar wird sie auf knapp 800 Pfund steigen. Das ist halsabschneiderisch, und wir können es uns schlichtweg nicht leisten«, sagt er.
Millionen von Briten stehen vor demselben Problem – und Zehntausende werden zum gleichen Mittel greifen wie Cable: Sie wollen ab dem 1. Oktober alle Energierechnungen in den Müll schmeißen, aus Protest gegen die exorbitanten Kosten. Sie sind Anhänger einer Basiskampagne namens »Don’t Pay UK«, die im Juni gegründet wurde. Ihr Ziel ist es, in den kommenden Wochen eine Million Unterstützer zu gewinnen. Bislang haben sich der Kampagne bereits 109 000 Briten angeschlossen. Sollte bis zum 1. Oktober eine Million Anhänger erreicht sein, wird der Zahlstreik beginnen – es sei denn, die Regierung kündigt vorher umfassende Hilfe an für die Verbraucher, etwa indem die Preise eingefroren werden oder staatliche Hilfe bereitgestellt wird.
Der drastische Schritt, zu dem sich Cable und seine Mitstreiter entschlossen haben, ist eine Reaktion auf eine zunehmend prekäre Situation in Großbritannien. Die Energiekosten steigen überall in Europa, aber in Großbritannien ist die Kostenexplosion besonders dramatisch. Die Energieaufsichtsbehörde Ofgem legt jeweils fest, wie hoch die jährliche Rechnung sein darf, die die Stromanbieter ihren Kunden stellen. Im Oktober 2021 betrug die Obergrenze knapp 1400 Pfund pro Jahr für Strom und Gas. Im April wurde sie heraufgesetzt auf rund 1900 Pfund. Im Sommer war das zwar für viele ein kleineres Problem, aber wenn die Briten bald ihre Heizungen wieder anstellen müssen, werden sie die Preiserhöhung empfindlich zu spüren bekommen.
Aber es kommt noch dicker: Im Oktober steht die nächste Erhöhung an, Details wird Ofgem am kommenden Freitag bekannt geben. Analysten haben jedoch bereits Rechnungen angestellt: Sie haben kalkuliert, dass die neue Obergrenze über 3500 Pfund betragen dürfte – und im Januar werden die Rechnungen auf mehr als 4200 Pfund steigen. Dass er sich im Oktober am Zahlstreik beteiligt, sei seine freie Entscheidung, sagt Jake Cable, der mittlerweile zu einem Sprecher der Don’t-Pay-Kampagne geworden ist. »Aber ab Januar wäre es keine Wahl mehr, denn die Rechnung wäre dann für mich ganz einfach unbezahlbar.«
Die University of York hat kürzlich berechnet, was die Energiepreiserhöhung für den Rest des Landes bedeuten würde. Demnach würden 18 Millionen Familien – zwei Drittel aller Haushalte – im Januar in die Energiearmut abstürzen. Diese tritt ein, wenn jemand mindestens zehn Prozent des Einkommens für Strom und Gas ausgibt. Über 90 Prozent der alleinerziehenden Haushalte mit zwei oder mehr Kindern würden laut der Studie mit Energiearmut kämpfen.
Im Frühjahr kündigte der damalige Finanzminister Rishi Sunak ein Rettungspaket an. Alle Haushalte erhalten einen Zuschuss von 400 Pfund für ihre Strom- und Gasrechnungen, ärmeren Haushalten wird mit zusätzlichen Beihilfen unter die Arme gegriffen. Aber dieses Hilfspaket sei mittlerweile völlig unzulänglich, weil die Preise noch viel mehr als befürchtet ansteigen werden, sagen viele Politiker und Ökonomen. Der Vorsitzende der Supermarktkette Asda, Stuart Rose, der für die Tory-Partei im Oberhaus sitzt, kritisiert die Regierung für das »erschreckende« Fehlen jeglicher Schritte gegen die allgemeine Teuerung.
Auch der für Energiepolitik zuständige Parlamentsausschuss fordert dringend Maßnahmen: »Die Energiekrise rennt der Regierung davon«, sagte der Vorsitzende Darren Jones von der Labour-Partei – das Hilfspaket müsse noch vor Oktober aktualisiert werden, um zu verhindern, dass Millionen von Leuten in die Schuldenfalle geraten. Aber die Regierung ist abwesend. Premierminister Boris Johnson wurde kürzlich in Griechenland erspäht, er ist offensichtlich in seinem zweiten Urlaub innerhalb von zwei Wochen. Und die Kandidaten für seine Nachfolge, Liz Truss und Rishi Sunak, zerfleischen sich gegenseitig im Führungskampf. Keiner der beiden hat konkrete Pläne vorgelegt, wie sie der Krise der Lebenshaltungskosten beikommen wollen.
So nimmt die Kampagne für die Nicht-Bezahlung der Energierechnungen Fahrt auf. Das Ziel, eine Million Anhänger zu finden, ist hoch gesteckt – aber es gibt einen historischen Präzedenzfall, der zeigt, dass ein Zahlstreik funktionieren kann: 1990 führte eine breite Nicht-Bezahlungs-Kampagne gegen eine neu eingeführte Kopfsteuer dazu, dass die Regierung von ihrem Vorhaben abließ.
Die Aktivisten von »Don‹t Pay UK« geben derzeit alles, um einen solchen Erfolg zu wiederholen. In vielen Städten stellt »Don’t Pay« an Wochenenden Informationsstände auf, und Aktivisten gehen von Tür zu Tür, um die Leute zum Mitmachen zu ermuntern. Zwar warnen Konsumentenberater, dass Nicht-Bezahlung nur zu weiteren Schulden und künftigen Problemen bei der Aufnahme von Krediten führt, aber die Kampagne setzt auf die Macht der Masse: Ein einzelner Haushalt, der nicht bezahlt, schafft sich selbst Probleme – aber eine Million Haushalte, die nicht bezahlen, sind vor allem ein Problem für die Energieanbieter und für die Regierung. »Es geht darum, dass wir zusammen stärker sind als allein«, sagt Jake Cable.
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