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Alltäglicher Rassismus nachweisbar
Trotz wachsender Toleranz sind fremdenfeindliche Vorurteile in Frankreich stark verbreitet
Testing nennen die Mitglieder der französischen Anti-Rassimus-Organisation SOS Racisme ihr Verfahren, mit dem sie alltägliche Fremdenfeindlichkeit aufspüren und anprangern. Die Aktivisten rufen beispielsweise Vermieter, Personalchefs oder Dienstleister an, die eine Wohnung, einen Arbeitsplatz oder andere begehrte Dinge anzubieten haben, um das Angebot in Anspruch zu nehmen. Dabei wird erst ein ausländisch klingender Name angegeben und bei einem zweiten Anruf ein typisch französischer. Das Ergebnis ist oft frappierend und aufschlussreich.
In diesem Sommer hat die Organisation, die ihren Sitz in Paris hat, ihr Testing an der Côte d’Azur eingesetzt. An der südfranzösischen Küste, wo die Vorfahren vieler Einwohner einst aus Italien, Spanien, Algerien oder anderen Anrainerstaaten des Mittelmeers zugewandert sind und wo man in hohem Maße von den vielen in- und ausländischen Touristen lebt, würde man eigentlich besonders viel Toleranz gegenüber Ausländern erwarten.
Doch die Tests von SOS Racisme ergaben ein anderes Bild. Wenn sie bei einem der Privatstrände anriefen, die zumeist an angrenzende Nobelhotels verpachtet sind, um Liegen unter einem der vielen Sonnenschirme zu reservieren, war meist alles bereits ausgebucht – wenn der Anrufer einen ausländisch klingenden Namen angab. Rief dann kurz darauf eine andere Person an und stellte sich mit einem typisch französischen Namen vor, waren wie durch ein Wunder noch Plätze frei. Am Tag darauf wurde das Ergebnis vor Ort überprüft, indem im Abstand von einer Viertelstunde erst ein afrikanisches, dann ein arabisches und schließlich ein französisches Paar am jeweiligen Strand Einlass begehrten. Die Reaktionen wurden diskret mit dem Handy gefilmt. Wenn eindeutige Fälle von Rassismus vorlagen, erstattete die Organisation Anzeige. Die Film- und Tonaufnahmen werden später vor Gericht als Beweise vorgelegt.
Doch so krass sieht es nicht immer und überall aus. Die französische Gesellschaft wird mit der Zeit toleranter, auch wenn viele rassistische Vorurteile zählebig sind. Das stellte die öffentlich-rechtliche Menschenrechtsinstitution CNCDH (Commission nationale consultative des droits de l’Homme) in ihrem Jahresbericht fest, der Ende Juli in Paris vorgelegt wurde. Dabei hob CNCDH-Präsident Jean-Marie Burguburu die »Rolle der Erziehung« hervor, weil der Samen für Toleranz und den Kampf gegen Diskriminierung schon im Kindesalter gelegt werden müsse.
Die CNDCH schätzt seit dem Jahr 2000 anhand von Umfragen und selbst erarbeiteten Toleranz-Kriterien die Situation auf den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens ein und vergibt dafür Punkte auf einer von 0 bis 100 (absolut tolerant) reichenden Skala. Dabei wurden für Frankreich aktuell insgesamt 68 Punkte vergeben. Das sei ein Rekord, erklärte die CNCDH-Generalsekretärin. »Noch nie gab es so viel Toleranz in unserem Land wie heute.« Doch auf diesen Lorbeeren dürfe man sich nicht ausruhen. Die Fortschritte müssten kritisch und nuanciert betrachtet werden, denn sie bezögen sich nicht gleichermaßen auf alle Altersgruppen der Bevölkerung und nicht auf alle Ausländer.
So schätzen 15 Prozent der Franzosen sich selbst als »rassistisch« ein, wobei es bei den über 60-Jährigen 20 Prozent und bei den unter 24-Jährigen 8 Prozent sind. Allerdings sind nur 6 Prozent überzeugt, dass es überlegene »Rassen« gibt. Besonders hartnäckig sind die Vorurteile Muslimen gegenüber. So schätzen immer noch 38 Prozent der Franzosen ein, dass »der Islam eine Gefahr für Frankreich« sei, auch wenn das einen Fortschritt gegenüber den 44,7 Prozent darstellt, die noch 2019 dieser Meinung waren.
Noch besorgniserregender aber ist die Situation für die Sinti und Roma, die mit 52 Punkten die in Frankreich am wenigsten akzeptierte Minderheit sind. Diese bekämen »hemmungslosen Rassismus zu spüren, der auch mit den Jahren kaum geringer wird«. So sind heute noch 45 Prozent der Franzosen überzeugt, dass die Sinti und Roma »von Diebstahl und Schmuggel leben«, während vor drei Jahren 48,2 Prozent dieser Meinung waren.
Die Menschenrechtskommission schätzt zudem ein, dass beim Rassismus die Dunkelziffer deutlich höher ist als bei allen anderen Delikten. Es wird geschätzt, dass Jahr für Jahr etwa 1,2 Millionen Menschen »Aggressionen rassistischer Art« ausgesetzt sind, was aber in krassem Widerspruch zur Zahl der für solche Delikte verurteilten Täter stehe, die bei knapp 1000 pro Jahr liegt.
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