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Eine nicht enden wollende Krise
Der Druck der Straße auf die regierende politische Klasse des Iraks wächst von Tag zu Tag
Normalerweise ist die Grüne Zone in der irakischen Hauptstadt Bagdad für Normalmenschen tabu. Abgeschirmt hinter streng bewachtem Stacheldraht bewegen sich hier einheimische Politiker, ausländische Diplomaten und Journalisten, meist ohne direkten Kontakt zur Zivilbevölkerung.
Doch seit einigen Monaten sind die Checkpoints durchlässig geworden, dringen die tiefen Spaltungen und drängenden Probleme der Irakerinnen und Iraker auch in diese abgeschottete Welt vor: Immer wieder durchbrechen Demonstranten die Absperrungen. Das Parlament wurde bereits gestürmt, mitten in der extremen Sommerhitze ein Protestlager aufgebaut. Und am Dienstag versammelten sich Hunderte vor dem Gebäude des Obersten Justizrats, in dem die Leiter der einzelnen Abteilungen der Justiz deren ordnungsgemäßes Funktionieren sicherstellen sollen. Zelte wurden aufgebaut, Banner aufgehängt, auf denen die Auflösung des Parlaments, Neuwahlen und eine Bekämpfung der Korruption gefordert werden.
Im Mittelpunkt der Proteste steht der prominente schiitische Prediger Muktada Al-Sadr. Im Oktober vergangenen Jahres hatte das von ihm angeführte Bündnis Saairun 73 der 329 Parlamentssitze gewonnen und wurde damit zur stärksten Fraktion. Neben seiner eigenen islamisch-nationalistisch geprägten Partei sind an dem Bündnis auch die irakischen Kommunisten und einige eher nationalistische Gruppen beteiligt. Der charismatische Al-Sadr, der sich selbst nach eigener Aussage nicht als Politiker sieht, gilt als potenziell gewaltbereit; nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein war er das Gesicht des bewaffneten Kampfes gegen die US-Truppen.
Doch anders als viele andere schiitische Gruppen im Irak kommen Al-Sadr und der Iran überhaupt nicht miteinander aus: Der Geistliche hat auch in den überwiegend von Arabern bewohnten Grenzregionen viele Anhänger; eben jener Region, die am stärksten von Wassermangel und Armut betroffen ist. Und Al-Sadr selbst kritisiert die Versuche der iranischen Revolutionsgarden, ihren Einfluss im Irak mittels der vielen schiitischen Milizen auszubauen, die sich im Verlauf der amerikanischen Besatzung gebildet haben.
So sind die derzeitigen Entwicklungen keine jener politischen Krisen, die sich entlang der konfessionellen oder ethnischen Grenzen in der irakischen Bevölkerung entwickelten. Auch viele Sunniten und Kurden haben sich der Bewegung um Al-Sadr angeschlossen. Eines ihrer Hauptziele: Eine Machtbeteiligung von durch den Iran unterstützten oder beeinflussten Gruppen zu verhindern. Daher zog Saairun die eigenen Abgeordneten lieber aus dem Parlament zurück, als eine Koalition mit dem »Koordinierungsrahmen« einzugehen, einem Bündnis aus pro-iranischen Parlamentsfraktionen.
Allerdings: Die wachsende Unterstützung beziehen Al-Sadr und Saairun vor allem aus der weit verbreiteten Ablehnung der Personen, die im Zentrum des Koordinierungsrahmens stehen. So versuchte dieses Bündnis, mit Mohammed Schia Al-Sudani einen Vertrauten des ehemaligen Premiers Nuri Al-Maliki zum Regierungschef zu machen.
Al-Maliki indes wird nicht nur eine Nähe zum Iran nachgesagt. Vor allem gilt er als Inbegriff der Korruption, die so gut wie alle Ebenen von Verwaltung, Wirtschaft, Politik und Justiz durchdrungen hat und als Verursacher und Verstärker der vielen Probleme gilt, die das Leben der Menschen in vielen Teilen des Landes schier unerträglich machen. Es herrscht Mangel an Wasser und Energie, Arbeitslosigkeit und Armut sind groß.
Und wenn man in der extremen Sommerhitze beispielsweise die Menschen in Basra, im Süden des Landes, fragt, wie sie die Lage sehen, kommt die Sprache als allererstes auf die riesigen Ölfelder in der Nähe, bevor die Frage gestellt wird, was denn mit den Einnahmen aus der Ölförderung passiert. Die Antwort lässt sich auch nach jahrelangem Suchen im irakischen Staatshaushalt, in den Berichten von Vereinten Nationen, US-Regierungsbehörden und der Weltbank nur vermuten. Sicher ist: Einige Leute, die meisten davon ehemalige oder aktuelle Politiker, haben viel Geld. Und die Menschen außerhalb der Grünen Zone viele Theorien.
Sie sind es, die Al-Sadr Zulauf bescheren und die Proteste befeuern, genauso wie, wahrscheinlich, die Probleme der Zukunft. Al-Sadr selbst will nicht regieren; die Leute in der Saairun-Fraktion sind allesamt Politik-Neulinge. Dass sie die Probleme des Landes lösen können, gilt als unwahrscheinlich. Die größte Schwierigkeit liegt in der Struktur des politischen Systems selbst. Um die konfessionellen und ethnischen Spaltungen zu überbrücken, wurde nach dem US-Einmarsch festgelegt, dass der Staatspräsident Kurde, der Parlamentssprecher Sunnit und der Regierungschef Schiit sein muss.
Das Volk wählt zunächst das Parlament, indem aktuell 34, zum Teil in Bündnissen organisierte Fraktionen vertreten sind. Im nächsten Schritt muss das Parlament dann einen Sprecher wählen. Als Nächstes wählt das Parlament dann mit einer Zweidrittel-Mehrheit den Präsidenten. Und der wiederum beauftragt dann einen Abgeordneten mit der Regierungsbildung. In den vergangenen Jahrzehnten war es stets so, dass dieser komplizierte Prozess nur mit finanziellen Zusagen an die einzelnen Fraktionen zu Ende gebracht werden konnte.
Alle Fraktionen sind derzeit zu Neuwahlen bereit – doch es gibt nun Streit darüber, wie das Parlament aufgelöst und Neuwahlen abgehalten werden sollen. Währenddessen liegen wichtige Entscheidungen seit gut einem Jahr auf Eis, denn der amtierende Regierungschef Mustafa Al-Kadhimi hat nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten. Nach dem Aufmarsch vor dem Obersten Justizrat stellte nun auch ein Großteil der Justiz die Arbeit ein.
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