Torschlusspanik beim 9-Euro-Ticket

Kurz vor Ende des beliebten Angebots versucht sich Franziska Giffey an einer populistischen Lösung

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 5 Min.

Allein in Berlin und Brandenburg sind von Juni bis August rund 5,5 Millionen 9-Euro-Tickets, die bundesweit im Nahverkehr gültig sind, verkauft worden. 3,3 Millionen davon bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) und je 1,1 Millionen bei der S-Bahn Berlin sowie den restlichen Verkehrsbetrieben und Eisenbahnunternehmen, wie der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) mitteilt.

»Die Verkäufe verteilten sich sehr gleichmäßig über die drei Monate. Stark war bis zuletzt der Absatz über die digitalen Kanäle mit einem Anteil von 40 Prozent«, so die BVG in einer Mitteilung vom Samstag. Über die drei Monate gerechnet entsprach die Fahrgastnachfrage 94 Prozent im Vergleich zum Vor-Corona-Zeitraum. In der ersten Woche nach Beginn der Berliner Schulferien vom 11. bis 17. Juli lag die Nachfrage sogar bei 105 Prozent.

»Das Ticket wurde insbesondere in den Nebenzeiten genutzt, also zum Beispiel zum Einkaufen, in der Freizeit und für Ausflüge. Aber auch zu den Spitzen-Pendlerzeiten verzeichnete die BVG mehr Fahrgäste als im Mai dieses Jahres«, heißt es von der BVG. Man analysiere weiterhin die Daten und schaue nun »mit großem Interesse auf die Entwicklung im September«, so das Landesunternehmen. Bis Mitte September sollen Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung vorliegen, die zeigen, »wie groß die Verlagerung vom Auto zum Nahverkehr in Berlin durch das 9-Euro-Ticket war und wie attraktiv mögliche Nachfolgeangebote für potenzielle Fahrgäste sind«, so die BVG.

Das Ticket sei nicht nur günstig, sondern vor allem leicht verständlich gewesen, erklärt BVG-Chefin Eva Kreienkamp. »Einfach gestaltete Ticketsysteme müssen daher eine Maßgabe bei allen Überlegungen zu neuen Angeboten sein«, fordert sie. Nun gelte es, den Nahverkehr langfristig attraktiv zu gestalten. »Und hierfür ist eines entscheidend: Ein gut verfügbares und durchgängiges Nahverkehrs-Angebot, über die Randbezirke der Metropolen bis ins Umland hinein«, so Kreienkamp.

Kurz vor dem definitiven Ende des 9-Euro-Tickets hat die Führung der Berliner SPD ein PR-Manöver gestartet. In mehreren Medien wurde am Freitagmorgen die Forderung lanciert, eine Anschlussregelung für die Hauptstadt bis Jahresende zu finden. Das wolle man in der Koalitionsklausur mit Grünen und Linkspartei durchsetzen, hieß es. Die Koalitionspartner zeigten sich wenig begeistert, nicht nur wegen der Kosten von geschätzt 400 Millionen Euro, sondern auch, weil das den von den Bundesländern aufgebauten Druck nehmen würde.

Wie bei den großspurigen Ankündigungen zu einem sofortigen U-Bahn-Ausbau in Berlin sind die beiden SPD-Landesvorsitzenden, die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Abgeordnetenhaus-Fraktionschef Raed Saleh auch in diesem Fall als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Herausgekommen ist ein »Prüfauftrag« für Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne), eine Übergangsregelung frühestens ab Oktober zu finden, wenn der Bund ein Anschlussmodell ab nächstem Jahr vorlegt.

»Zentral ist für uns ein bezahlbares und, ganz wichtig, ein dauerhaftes Nachfolgeangebot für das 9-Euro-Ticket, weil ein bezahlbarer ÖPNV spürbar die Geldbeutel entlastet«, erklärte Grünen-Politikerin Jarasch im Anschluss an die Koalitionsklausur. »Der Bund muss dafür endlich ein ernstzunehmendes Angebot vorlegen«, forderte die Mobilitätssenatorin. Tue er das, könne sie sich auch eine Beteiligung der Länder vorstellen. »Davon abhängig wollen wir als Überbrückung ein vom Land finanziertes Ticket erarbeiten – in Abstimmung mit dem VBB, denn es braucht eine Lösung die auch für Brandenburg akzeptabel ist«, so Jarasch weiter. Sie freue sich, dass die Koalitionspartner mitziehen, erklärte sie.

»Von Berlin ist heute das starke Signal ausgegangen, dass wir als Gesellschaft beieinander bleiben und niemanden zurück lassen. Berlin steht bereit, seinen solidarischen Anteil zu leisten; das schafft Akzeptanz«, erklärte SPD-Fraktionschef Raed Saleh. Man habe verabredet, die schnellen Ergebnisse der Entlastungsgespräche des Bundes zeitnah zu bewerten und dann konkrete Ergänzungsbeschlüsse zu treffen. Das unabgesprochene Vorpreschen der Sozialdemokraten hat damit nach nicht mal einem Tag einen vorläufigen Schlusspunkt gefunden.

»Es ist richtig, dass Berlin als Bundesland weiter den politischen Druck auf den Bund aufrechterhält«, erklärte Kristian Ronneburg, Verkehrsexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. »Gleichzeitig kann Berlin allein das 9-Euro-Ticket nicht stemmen. Berlin kann Vorschläge für den AB-Bereich machen, doch wir sind eine Metropolregion«, so Ronneburg weiter. Abstimmungen mit Brandenburg im Rahmen des VBB seien dringend notwendig.

Auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) zeigte sich irritiert vom Vorstoß der Berliner Parteifreunde. »Hier muss ein bundeseinheitliches, attraktives und seriös finanziertes Modell gefunden werden, das für Flächenländer ebenso funktioniert wie für Stadtstaaten«, forderte er am Samstag im Interview mit der »Märkischen Oderzeitung«. »Ich halte Alleingänge nicht für hilfreich«, ließ Brandenburgs Verkehrsminister Guido Beermann (CDU) im Interview mit den »Potsdamer Neuesten Nachrichten« am Samstag wissen. Und: »Mit uns ist das nicht abgestimmt.«

»Das 9-Euro-Ticket hat vielen Menschen Mobilität ermöglicht, die sie sich zuvor nicht leisten konnten und gezeigt, dass es einen großen Bedarf für günstigen Nahverkehr gibt«, hebt Linke-Verkehrspolitiker Kristian Ronneburg hervor. Das belegen Zwischenergebnisse einer laufenden Studie von Forschenden des Instituts für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg.

Befragt worden sind 25 einkommensarme Menschen aus dem Bereich des Hamburger Verkehrsverbunds zu den Auswirkungen des dreimonatigen Sonderangebots für sie. »Das 9-Euro-Ticket brachte die unbekannte Freiheit, sich souverän über das Nahumfeld hinaus zu bewegen. Diese wurde nur in wenigen Fällen für Fernreisen ausgereizt; laut einer Erhebung des HVV waren knapp 4 Prozent der Fahrten länger als 100 Kilometer«, deuten die Zwischenergebnisse der noch nicht abgeschlossenen Studie an. »Endlich kann ich meine Enkelkinder öfter mal sehen. Dafür ist das für mich ideal«, sagte beispielsweise eine Rentnerin, die Grundsicherung bezieht.

Für Personen in prekärer Lebenslage habe das Ticket einen enormen Gewinn an Teilhabechancen bedeutet, so die Forschenden. »Für die Einkommensarmen, mit denen wir sprachen, bedeutet der 1. September eine Rückkehr in die gewohnten Einschränkungen ihres Verkehrsalltags«, heißt es in der Zwischenauswertung. Für ein Folgeangebot seien die meisten Befragten bereit, einen höheren Preis von 20 bis 30 Euro zu zahlen.

»So sehr wir uns für die Berliner Fahrgäste freuen, eine Berlin-Brandenburger Lösung wäre das Optimale«, sagt Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB zu »nd«. »Ein Übergangsticket ab 1. Oktober gibt uns die Zeit, zum 1. Januar wenigstens für die Region, und wenn wir Glück haben, sogar für Deutschland echte Nachfolgeregelungen zu finden«, so Wieseke weiter.

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