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Rundfahrt der Umsteiger
Die Vuelta wird bisher von einem früheren Skiflieger, einem Ex-Fußballer und einem E-Sportler bestimmt
Man kann sich Zeit lassen mit dem Einstieg in den Radsport. Das zeigt derzeit die Vuelta a España. Denn drei Umsteiger und Späteinsteiger prägen sie. Die ersten vier Tage standen ganz im Zeichen des einstigen Wintersportlers Primož Roglič. Der frühere Juniorenweltmeister im Skispringen – und aktuelle Olympiasieger im Einzelzeitfahren – war der stärkste Zylinder der Jumbo-Visma-Maschine beim Teamzeitfahren zum Auftakt. Jumbo dominierte den Wettbewerb. Drei Teamkollegen von Roglič übernahmen nacheinander das rote Trikot des Gesamtführenden. Und als die ersten steilen Rampen im Baskenland kamen, griff der Chef selbst zu.
Roglič schien unverwundbar, sein Team vollkommen makellos. Bei eher belgischem Wetter, Regen, Nebel und empfindlicher Kühle fuhr auf der 6. Etappe aber sein Hauptrivale Remco Evenepoel das Feld auseinander. »Es war eine meiner besten Taten auf dem Rad überhaupt«, sagte der 22-Jährige, der als 17-Jähriger noch ambitioniert Fußball gespielt hatte. Evenepoel isolierte erst Roglič. Das komplette Jumbo-Team konnte der Tempobolzerei von Evenepoels französischem Teamkollegen Julian Alaphilippe nicht standhalten. Evenepoel selbst nahm Roglič schließlich am finalen Anstieg des Pico Jano eine Minute und 22 Sekunden ab. Lediglich der Spanier Enric Mas konnte mit dem Belgier mithalten.
Die Show stahl dem früheren Fußballer allerdings der dritte der Umsteiger. Der Australier Jay Vine zog 10 Kilometer vor dem Ziel unwiderstehlich davon und holte seinen ersten Profi-Sieg. Es war ein historischer Moment. Denn Vine war über das Watt-Treten im heimischen Wohnzimmer in den Profisport gekommen. 2020 gewann er die Zwift Academy, einen Talentewettbewerb der virtuellen Trainingsplattform, an dem zum Höhepunkt der Corona-Pandemie weltweit 130 000 ambitionierte wie auch meist im Lockdown eingeschlossene Radsportenthusiasten teilgenommen hatten. Der Sieg bescherte Vine einen Profivertrag im Rennstall von Superstar Mathieu van der Poel.
Für den Rennstall war es ein Lotteriespiel. Zwar kann Vine enorme Wattzahlen treten. Er bestätigte sein Leistungsvermögen auch bei der eSports-WM in diesem Jahr, als er den 2020er-Weltmeister in dieser Disziplin, den Mainzer Jason Osborne, entthronte. Aber nicht jeder, der den eSport dominiert, reüssiert automatisch in der wilden Jagd auf der Straße. Osborne etwa fuhr in diesem Jahr beim Arctic Race of Norway der Konkurrenz meist hinterher. Gut, er gewann im letzten Jahr noch Olympiasilber im Leichtgewichtsrudern draußen auf dem Wasser. Bei ihm geht es gleich um einen Mehrfach-Umstieg.
Aber Vine wurde in seinem ersten Profijahr 2021 gleich Gesamt-Zweiter bei der Norwegen-Rundfahrt – einem Rennen vergleichbar mit dem Arctic Race. Damals übrigens hinter Evenepoel. Bei den zwei Bergetappen dort blieb er auch hinter dem Belgier.
Jetzt in Spanien, beim wichtigeren Rennen also, hat er den Spieß umgedreht. In der letzten halben Rennstunde war er zweimal der Stärkste. Auf der 6. Etappe attackierte er aus der Gruppe der Favoriten heraus. Nicht einmal vom wie entfesselt fahrenden Evenepoel, der selbst einen seiner besten Tage überhaupt auf dem Rad hatte, konnte er gehalten werden. Zwei Tage später trat er aus einer Fluchtgruppe heraus an und gewann die Etappe. »Es handelte sich wie schon zwei Tage zuvor um eine etwa 25-minütige Maximalbelastung am Berg. Ich wusste, dass ich das kann«, kommentierte Vine gelassen seinen Coup. Noch mehr als sein stoisches Wattzahlen-Treten am Ende einer Etappe verblüffte indes, wie gut er sich im Peloton bewegt und auch bei Abfahrten verhält. Er schien den Bergabverkehr auf den regennassen Straßen sogar zu genießen.
Die Entwicklungen des zweifachen Etappensiegers Vine, des dreifachen Vuelta-Siegers und mittlerweile zehnfachen Etappensiegers der Spanienrundfahrt Roglič und auch des derzeit bestimmenden Klassementfahrers Evenepoel weisen darauf hin, dass es auch Sinn machen kann, spät mit dem Radsport zu beginnen und den Körper zuvor in ganz anderen Disziplinen zu stählen. Der Slowene Roglič fuhr mit 26 Jahren sein erstes WorldTour-Rennen, Evenepoel war mit 17 Jahren überhaupt das erste Mal ernsthaft auf einem Rennrad. Vine versuchte sich als Kind im Rugby und Cricket – und erst die virtuelle Zwift Academy verhalf ihm im Alter von 25 Jahren zum Einstieg in den Profiradsport. Sein Rennstall sieht ihn als potenziellen Rundfahrer. Es wäre ein neuer historischer Moment, wenn ein einstiger E-Racer – der vor dem Einstieg in den Berufsradsport seine Brötchen unter anderem als Datenanalyst verdiente – eine echte analoge Grand Tour gewänne. Man sollte sich seinen Namen merken.
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