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Die Sache mit dem Wählerwillen
Jeja nervt: Wie toxisch ist das Gerede vom politischen Mehrheitswillen?
Annalena Baerbock hat mit ihrer Äußerung über die Unterstützung der Ukraine für Diskussionen gesorgt. Wenn sie dem ukrainischen Volk das Versprechen gebe, sagte sie da, dass Deutschland an seiner Seite stehe, »solange ihr uns braucht«, dann werde sie dieses auch halten – und zwar »egal, was meine deutschen Wähler*innen denken«. Dieser Satz machte in der vorvergangenen Woche die Runde, gestreut über russische Propagandakanäle und eingesickert durch rechte Twitter-Accounts. Schließlich griff auch Sahra Wagenknecht die Aufregung auf und polemisierte gegen die Außenministerin. Die vertrete ukrainische Interessen, nicht diejenigen der deutschen Wähler, und sei darum »eine Gefahr für unser Land«.
Die Ehrlichkeit und Furchtlosigkeit Baerbocks, zu sagen, was sie denkt und aus welchen Motiven sie die ihr übertragene Macht wie einsetzt, könnte für sozialistische Politiker*innen ein Vorbild sein. Stattdessen wildert im linken Lager eine Kultur, die verzweifelt versucht, Wurzeln in der Volkstümlichkeit zu schlagen. Diese Kultur besagt in etwa, dass es dasjenige auszusprechen gelte, was die Mehrheit denkt. Doch egal wo diese Form der Volkstümlichkeit politisch angesiedelt ist – ob weit links, rechts oder ganz rechts – der »Mehrheitswille« deckt sich mit schlafwandlerischer Sicherheit stets mit der eigenen politischen Anschauung.
Eine solche Form der Politik ließe sich in etwa so beschreiben: In einem ersten Schritt wird das Ungestüme und Präreflexive im Seelenleben des Volkes herausgelesen. Im zweiten Schritt wird es bis zur Dickflüssigkeit eingekocht. Und das wird dann, Schritt drei, dem Volk als sein eigentlich unveräußerliches, aber missachtetes Recht zurückgegeben. Ja, das hat ein gewisses Mobilisierungspotenzial. Doch die Behauptung, nur die Haltung derjenigen Mehrheit auszusprechen, aus deren Mitte man selbst stammt, kreuzt gefährlich nah an den Gewässern der Lüge. Denn in Schritt zwei findet eine Täuschung statt: Es ist eben nicht das ganze, in sich natürlich widersprüchliche Gefühlsleben der Massen, das hier ausgeschenkt wird. Im Vorgang des Einkochens bringt sich der Politiker selbst ein, wenn er vorgibt, nur als Spiegel aufzutreten. Er trennt ihm Nützliches von Unnützlichem, Passendes von Unpassendem.
Herauskommt eine zutiefst problematische Form der Beziehungsgestaltung. Übertragen wir solches Verhalten nämlich auf Zwischenmenschliches, wird relativ schnell der unauthentische und manipulative Charakter auffallen, der im Volksmund gegenwärtig so gern als »toxisch« verhandelt wird. Wichtiges Merkmal: die Verwischung der prinzipiell unüberbrückbaren Differenz zwischen Menschen. Der Manipulateur erschafft eine Scheinidentität, unter der sich zwei Personen zusammenfinden, ohne sich jedoch gleichberechtigt einzubringen. Stattdessen stülpt er die eigene Identität, die er »uneigennützig« als gemeinsame verkauft, über. Er verwickelt sich jedoch selber so stark mit seinem Werk, dass er die von ihm ausgehende Unwahrheit nicht mehr als solche erkennen kann. Er wird diese Unwahrheit. Zeigt das Gegenüber dann, was kaum verwundern darf, Anzeichen einer eigenen, getrennten Identität, wittert der Manipulateur Verrat. Er verstärkt seine Bemühungen, den anderen zurück in die Einheit zu ziehen.
Nur da, wo Politiker*innen als moralisch integre, getrennte Persönlichkeiten ihre langfristigen Visionen kommunizieren, kann eine echte Beziehung zwischen ihnen und den Wähler*innen gelingen. Baerbock setzt hier – und den Teil haben die rechten Desinformationskrieger*innen beim Verbreiten der Aufnahmen bewusst herausgeschnitten – lieber auf das demokratische Prozedere der Wahl, die sie entweder im Amt bestätigt oder verwirft, sie in beiden Fällen aber sie selbst bleiben lässt. Sozialismus, der gelingen soll, wäre das Kunststück, als Politiker*in gegenüber der Bevölkerung transparent mit der Differenz in Bewusstsein, Wissen und Macht umzugehen und sie in einer solchen Weise zu Solidarität und Zärtlichkeit zu erziehen, in der sie eine andere wird, ohne nicht sie selbst bleiben zu dürfen.
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